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Themenicon: navigation pathPublic Sphere_sicon: navigation pathMedienräume
Die Konstruktion von Medienräumen
Zugang und Engagement: das eigentlich Neue an der Netz(werk)kunst
Josephine Bosma
 

Einige Gedanken über Kunst

Irgendwie gerät man stets in dasselbe Dilemma, wenn man aus kunsthistorischer Sicht über die neuen Medien schreiben will. Soll man dem üblichen Ansatz folgen, bei dem technische Neuerungen des visuellen Bildes im Vordergrund stehen, oder soll man diese Kunst als Komplex kultureller Ausdrucksformen ›betrachten‹, die unterschiedliche Gestalt annehmen können? Dieses Dilemma scheint mit der Definition von Kunst und dem kulturellen (und politischen) Kontext zusammenzuhängen, der mit jeder Definition von Kunst einhergeht. Doch es gibt einige Strategien, um diesem Dilemma zu entkommen. Eine der beliebtesten ist die, bestimmte künstlerische Werke und Projekte gar nicht erst als Kunst zu bezeichnen. Doch dadurch entsteht eine große Lücke in der Kritik, und viele künstlerische Praktiken werden von vorneherein ausgegrenzt. Meine Lieblingsstrategie ist die entgegengesetzte: Wenn man sich einer Sache nicht sicher ist, sollte man sie als Kunst bezeichnen und alle weiteren Probleme der Bedeutungszuschreibung Kritikern und Theoretikern überlassen. Ob etwas Kunst ist oder nicht, war lange Zeit keine vorrangige Frage; die eigentlicheHerausforderung ist vielmehr, wie man künstlerische Praktiken und Produkte einordnen und bewerten soll. Aber es gab noch eine dritte beliebte Strategie. Die Unbestimmbarkeit und Instabilität der Kunst in den elektronischen Medien und ihrem Umfeld haben zu einer Unklarheit geführt, angesichts derer die sicherste, leichteste und eindeutig populärste Option darin bestand – und wahrscheinlich auch auf Jahre darin bestehen wird –, Kunst aus der vormodernen Perspektive des handwerklichen Könnens zu betrachten, häufig verbunden mit einem Hinweis auf das schöpferische Genie des Autors. Dies wiederum geht mit der schlichten Annahme einher, der künstlerische Fortschritt sei in die technische Innovation des visuellen Medienbildes eingebettet. Problematisch an dieser Strategie ist jedoch, dass sie Jahrzehnte interdisziplinärer Kunstpraktiken vernachlässigt, die für die Entwicklung der neuen Praktiken, mit denen wir es heute zu tun haben, sehr wichtig waren, Praktiken, die zu vielgestaltig sind, als dass sie sich einfach in ein oder zwei Kategorien der Felder Design oder bildende Kunst sowie die mit ihnen verbundenen Diskurse einfügen lassen.

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Dieser Essay versucht Kunst, die im Internet und seinem Umfeld geschaffen wird, aus einem relativ neuen Blickwinkel zu analysieren, nämlich dem der Kunst in der Public Domain, dem frei zugänglichen Bereich der Öffentlichkeit. Diese Perspektive ist deshalb nur relativ neu, weil die Public Domain in der Internetkunst und ihrem Crossover zum Medienaktivismus schon seit langem ein Thema beziehungsweise Schwerpunkt gewesen ist. Die Definition der Public Domain hat sich durch die Verwendung elektronischer Medienräume, beginnend mit Radio und Fernsehen, aber vor allem infolge der Ausbreitung des Internets und seiner relativ leichten Benutzbarkeit durch die Öffentlichkeit signifikant erweitert. Die Betonung der Kommunikation und der Ausdrucksfreiheit innerhalb der elektronischen Medien hat zu mindestens drei sehr spezifischen neuen Kunstpraktiken geführt. Diese basieren auf der Zusammenarbeit, dem Zugang zu Medien sowie einer überall verfügbaren, einfachen Technologie oder sind sogar von diesen abhängig. Kurzum, alle drei basieren auf Konnektivität, das heißt auf dem Sachverhalt, dass man mit jemandem oder etwas verbunden ist: mit Menschen, mit Medienkanälen, mit Werkzeugenund/oder Wissen. Die drei Praktiken, auf die ich mich hier beziehe, sind Environments und Performances mit irgendeiner Form von Internetzugang, von Künstlern initiierte Repräsentationsplattformen oder Treffpunkte im Internet sowie nicht zuletzt Softwarekunst.

Eine (Neu-)Definition der Public Domain

Eine (Neu-)Definition der Public Domain ist ein nie endendes Unterfangen, oder, wie Erik Kluitenberg, der Verfasser von »FAQ about the Public Domain« [1] in einer E-Mail schreibt: Dieser Text beruht auf Recherchen in »Listen, privater E-Mail und anderen öffentlichen Diskussionen«. Er fährt fort: »Die Public Domain ist etwas, das sich ständig verändert, das nie feststeht und daher immer wieder neu erfunden werden muss. Wirklich öffentliche Räume entstehen meist einfach so und werden nicht bewusst entworfen.« Man kann sich sogar fragen, ob es (derzeit) so etwas wie eine Public Domain überhaupt gibt. In seinem Text »Designing the Digital Commons« schreibt der Medientheoretiker Geert Lovink: »[…] vielleicht stellen wir ja fest, dass die digitale ›Gemeinschaft‹ eine negative Utopie ist. Als

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Ereignis oder Erfahrung und weniger als fest stehender Ort existierte die digitale Gemeinschaft in der Zukunft (oder ist gerade dabei, sich in der Vergangenheit ereignet zu haben).« [2] Auf Nachfrage erklärt Lovink diese negative Utopie folgendermaßen: »Man könnte sie auch als temporäre autonome Zone bezeichnen, die nur als solche erkannt werden kann, wenn die Zone als real existierende Utopie bereits verschwunden ist.«

Nichtsdestotrotz lassen sich die Hauptmerkmale der neuen Public Domain, der Public Domain 2.0, wie sie Kluitenberg beschrieben hat, voneinander unterscheiden. Die wichtigsten scheinen der Zugang zu den und die Kenntnis der (sozialen und technischen) Medientechnologien zu sein, die beide von zentraler Bedeutung für spontane Aktivitäten in einem medialen Umfeld sind. In ihrem Buch »Netzkulturen« schreibt die Kuratorin und Kritikerin Inke Arns: »In einer zunehmend vernetzten Welt ist die Vermittlung einer ›kritischen Medienkompetenz‹ unabdingbar. Nur mit ihr können Menschen das Netz und die neuen Kommunikationstechnologien […] für ihre eigenen Ziele einsetzen.« [3] Öffentliche Räume in elektronischen Medien können nicht »spontan entstehen«, wenn spezifische Technologien unzugänglich und/oderunvertraut sind. Die Werke der in diesem Text beschriebenen Künstler bringen die Menschen der Technologie auf vielen unterschiedlichen Ebenen näher. Einige wecken lediglich die Neugier und versetzen in Erstaunen (die erste Stufe der Vertrautheit), andere zielen deutlich darauf ab, das Publikum einzubinden oder sogar zu bilden. Alle diese Werke behandeln die Public Domain als einen virtuellen, vermittelten Raum, der sowohl aus materiellen als auch aus immateriellen Bestandteilen besteht.

Einsatz physischer Schnittstellen: Von Angesicht zu Angesicht mit der Technologie

Medienkunstperformances, leicht zugängliche Medienkunstinstallationen und Medienkunstworkshops mit oder ohne Echtzeit-Netzverbindungen sind das fehlende Bindeglied zwischen Kunstwerken in der alten und der neuen Public Domain. Während Onlineplattformen (wie sie später in diesem Text beschrieben werden) einander in puncto Form und Anmutung immer noch relativ ähnlich sind, was vermutlich daran liegt, dass sie auf der Zusammenarbeit

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von Gruppen beruhen, weisen diese physischen Schnittstellen (ebenso wie die Kunstsoftware) eine spezifische individuelle oder (Klein- )Gruppenästhetik auf, so dass sie für die meisten zeitgenössischen Kunstrezipienten relativ leicht als Kunstprojekte zu erkennen sind.

Schon immer sind in der Geschichte der elektronischen Medien komplexe Medienkunstperformances und - installationen entstanden. [4] Doch nicht alle haben das Kunstwerk für die Passanten auf der Straße geöffnet oder sich überhaupt ernsthaft auf das Publikum eingelassen. Die physische Gegenwart und ›Ansprechbarkeit‹ des Künstlers innerhalb einer Kunstperformance, eines Kunstevents oder eines Happenings (um einen alten Begriff wieder aufzugreifen) sind vermutlich am besten geeignet, um mit dem Publikum Kontakt aufzunehmen. Doch wie das »Project-X« von Heath Bunting zeigt, kann man die Präsenz des Künstlers auch auf andere Weise ›spüren‹. Den Betrachter einbeziehende physische Schnittstellen eignen sich am besten, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Sie verbinden den Raum der Medien mit den Räumen jener Welt, diewir im Allgemeinen als die physische bezeichnen. Auch Medienräume sind physische Räume, doch wir tendieren dazu, sie nicht als solche zu erleben. Sie gelten als flüchtig oder immateriell und basieren teils auf der Manipulation natürlicher Phänomene durch die Verwendung verschiedener maschineller Schnittstellen teils auf kultureller oder psychologischer Erfahrung. Um sich ihrer und der durch sie gegebenen Interaktions- oder anderer Einsatzmöglichkeiten bewusst zu werden, muss man sie sichtbar, fassbar oder ›erfahrbar‹ machen. Maschinen- oder Desktopschnittstellen erledigen dies für die individuelle One-on-One-Interaktion, doch für einen Medienraum, der, konzeptuell oder auf andere Weise, als ganzer zugänglich ist, sind verschiedene Lösungen möglich, um die Illusion einer Schnittstelle zu einem ›immateriellen‹ Raum zu erzeugen. Um die Public Domain 2.0 zu öffnen und die Öffentlichkeit an dieser Erfahrung teilhaben zu lassen, hat beispielsweise Station Rose das Clubformat VJ und DJ zur Schaffung temporärer immersiver Environments genutzt. Von den verschiedenen Projekten, die Heath Bunting gemacht hat, habe ich ein weniger bekanntes gewählt, bei dem er mittels

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einer Kreidebotschaft auf der Straße die Neugierde der Öffentlichkeit weckte und zugleich seine eigene befriedigte. Etoy arbeitet in einem Projekt mit Kindern zusammen und bringt ihnen die Grundlagen der Medieninteraktion bei. Ähnlich verhält es sich bei Mongrel, ein Projekt, auf das sich die Menschen ebenfalls in Workshops und sogar im privaten Austausch direkt einlassen müssen.

Station Rose

Station Rose besteht aus Elisa Rose und Gary Danner. Seit sie Ende der 1980er Jahre in Wien eine Art Galerie gründeten, sind beide als Organisatoren und Performer im Bereich neue Medienkunst aktiv. Rose kreiert live Bildwerke, Danner hingegen macht Musik. Mit den Bausteinen Ton und Bild entwickeln sie etwas, was sie selbst gerne als »virtuellen Raum« bezeichnen. 1988 begann Station Rose mit Performances mittels vernetzter Computer, doch erst 1991, als sie sich dem kalifornischen Netzwerk The Well. [5] anschloss, wurde sie Teil der Internetcommunity. Man kann die Performancewerke von Station Rose nicht losgelöst von Roses und Danners Erfahrung als Netzwerkerbetrachten. In einem Interview sagt Danner: »Ich versuche, soviel wie möglich im Netz zu machen. – Ich möchte nicht in die Lage geraten, dass ich mir in einigen Jahren sagen muss, wir hätten ’99 etwas machen können, damit das Netz kein reines Einkaufszentrum wird. […] Ich empfinde da eine gewisse Verantwortung. Die ersten ›Onliners‹ von The Well haben mich darauf vorbereitet. Sie haben ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Dieses Gefühl haben sie mir ebenfalls beigebracht.« [6]

Station Rose wollen ihr Publikum an ihrer Erfahrung des Cyberspace teilhaben lassen, indem sie ein temporäres immersives Environment schaffen. In einem Interview äußert sich Rose: »Wichtig ist der Aspekt der Performance innerhalb der Medienkunst. Diese Echtzeit-Momente sind zwischen Materiellem (und) Immateriellem angesiedelt.« [7] Performance und andere physische Ereignisse in Echtzeit scheinen die beste Gelegenheit zu bieten, die doppelte Erfahrung des Cyberspace, die physisch und zugleich nicht-physisch ist, zu ermöglichen und das Publikum einzuladen, an dieser Erfahrung online teilzuhaben. Performance in der neuen Medienkunst kann genau dies leisten und

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damit über den One-on- One-Kontakt mit dem Computer hinausgehen. So verband Station Rose bei ihren Performances in den frühen 1990er Jahren ihre Computer mit dem Internet und forderte ihr Publikum auf, sich an der Performance zu beteiligen und Mails an die Gruppe zu schicken. Auf diese Weise wurde der Performanceraum (häufig handelte es sich um den Kontext einer Party) ausgedehnt beziehungsweise erweitert. Auch wenn sich diese Erweiterung in technologischer Hinsicht dem direkten Zugriff des Publikums entzog, wurde es jedoch in sozialer, kultureller oder psychologischer Hinsicht ausdrücklich einbezogen. »Über Telnet und diesen ›u-Befehl‹ konnte sich jeder einloggen und etwas senden, wenn er/sie wusste, dass wir in Frankfurt beim Gunafa Clubbing waren.« Rose fährt fort: »Das (deutsche) E-Mail-Programm Magicall, das wir damals verwendeten, lief auf Amiga, das ich benutzte, um live mit vier Projektionsleinwänden zu arbeiten […] Ich ließ […] das E-Mail- und das Animationsprogramm gleichzeitig live laufen. Wenn ich eine neue Nachricht erhielt, blitzte der Bildschirm auf. Dadurch entstand im Club ein besonderer Lichteffekt, ein digitaler Strobe-Effekt, weilwir so viele Nachrichten erhielten.« [8] All dies geschah zu einer Zeit, in der das Internet nicht nur beim breiten Publikum, sondern sogar auf Seiten vieler Medienkunstfestivals noch weitgehend unbekannt war. »Soweit ich mich erinnere«, erklärt Danner, »hatte die Ars Electronica 1995 noch keine E-Mail-Adresse«. [9] Noch 1998 war es nichts Ungewöhnliches, dass Medienkunstfestivals E-Mails einfach deshalb nicht beantworteten, weil sie nicht wussten, wie man eine Mailbox benutzt. Man kann nur versuchen, sich vorzustellen, welche Reaktionen Performances wie die oben beschriebenen beim Publikum ausgelöst haben. Sie dürften mysteriös gewirkt, Neugierde geweckt, doch in jedem Fall eine Menge Gesprächsstoff geboten haben. Wenn die Show vorüber war, hatte man vermutlich den Eindruck, etwas ganz Besonderes erlebt zu haben. »Es dauert stundenlang, virtuelle Räume zu errichten, sie zum Leben zu erwecken«, sagt Rose, »und sobald die (analogen) Lichter angeknipst werden, sind diese Räume weg und werden nie wieder auf dieselbe Weise zurückkehren. […] Im Cyberspace in Echtzeit komponieren ist eine extreme Erfahrung«. [10] Offenbar waren die Gunafa Clubbing Events temporäre

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autonome Zonen: einige der instabilen Bits der Public Domain 2.0.

Heath Bunting: Project-X

Auch schlichte Projekte können schön sein. »Projekt -X«, eine Straßenarbeit von Heath Bunting aus dem Jahr 1996, war von solch schlichter Schönheit. Mit Kreide schrieb Bunting eine Internetadresse auf einen Gehweg, an eine Wand oder auf einen anderen Gegenstand im öffentlichen Raum. Die Adresse ist nach wie vor in Betrieb. Die Idee war herauszufinden, was die Leute tun würden: etwa wirklich nach Hause oder in ihr Büro gehen und die Adresse in einen Webbrowser eingeben? Und wenn sie es taten, welche Erwartungen verbanden sie dann damit? Auf der Website finden sich ein einfacher Fragebogen und die Antworten derjenigen, die sich die Mühe machten, ihn auszufüllen (wenn sie ihn denn selbst ausfüllten).

In Buntings Werk geht es vor allem darum, das Publikum durch kleine Eingriffe zu überraschen, die nicht automatisch als Kunst zu erkennen sind. »Es macht mir großen Spaß, mit meinen Freunden überKunst und dergleichen zu sprechen, aber ich würde nicht unbedingt sagen, dass ich ein Künstler in einem bestimmten öffentlichen Kontext bin«, erklärt Bunting in einem Interview, »das weckt dann eine ganze Reihe von Assoziationen, die sich letztlich kontraproduktiv auf das eigene Werk auswirken«. [11] Über seine Arbeit auf der Straße sagte Bunting 1997, als er als einer der ersten Netzkünstler zur Documenta eingeladen wurde: »Gerade indem man auf die Straße geht und Sachen in der Öffentlichkeit macht, erobert man Privaträume zurück.« [12]

»Project X« war aber offenbar auch Ausdruck des Widerstands gegen die wachsende Popularität der Netzkunst, ja den Hype, den sie 1996 auslöste. »[Project X] erfüllte den Zweck, das Interesse der Öffentlichkeit am Internet auszuloten und so das Interesse der Betrachter zu reflektieren«, schreibt Bunting in einer Ausgabe des Onlinemagazins Switch. [13] »Project X« kombiniert Graffiti und das Internet auf äußerst unpopuläre Weise. Die Kreidekritzeleien wirkten überhaupt nicht eindrucksvoll und waren beiläufig ausgeführt. Doch zu einer Zeit, in der das World Wide Web noch in den Kinderschuhen steckte,

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war schon die Präsenz einer URL auf einem Gehweg merkwürdig genug. Der Kontrast zwischen der Kreide auf der Straße und der technoiden Glätte des Web verlieh »Project X« einen interessanten Touch. Allein der Gedanke, dass jemand gerade an derselben Wand oder Straße vorübergegangen war wie man selbst und dort eine Nachricht hinterlassen hatte, gab dem Projekt eine eigentümliche Intimität, eine Intimität, die man vielleicht auch von graffitibemalten Wänden oder Straßenmöbeln kennt. Jemand hat seine Markierung hinterlassen, aber warum und für wen? Welche Kultur und welche Art Leute repräsentieren diese Zeichen?

Bei diesem Projekt nahm Bunting einen poetischen Eingriff vor, der auf mehreren Ebenen gleichzeitig funktioniert. Die Absurdität des so genannten frei zugänglichen öffentlichen Raums wurde dadurch entlarvt, dass eine URL an einer Stelle hinterlassen wurde, an der die Passanten eine Anstrengung unternehmen mussten, um sich daran sie zu erinnern oder sie zu benutzen – wenn sie denn überhaupt Zugang zum Internet hatten. Wem es gelang, sie auszuprobieren, sah sich mit einem ungelöstenGeheimnis konfrontiert, das einfach ein Scherz sein konnte oder irgendeine merkwürdige, misslungene Werbekampagne oder gar ein Kunstprojekt. Aber wie auch immer sie diese Botschaft interpretierten, wurden sie Teil eines Kunstprojekts, das sich von den nach wie vor relativ offenen Straßen der realen Welt in den potentiell frei zugänglichen Bereich des World Wide Web erstreckte.

Mongrel

Mongrel ist ein Künstlerkollektiv, das aus Matsuko Yokokoji, Mervin Jarman, Richard Pierre Davis und Graham Harwood besteht. Es macht Installationen, produziert Software, Texte und CD-ROMs und veranstaltet Workshops. In einem Interview erklärt Graham Harwood: »Mongrel ist ein bunter Haufen von Leuten, denen es darum geht, die Methoden der Londoner Straßenkultur zu feiern. Gegründet wurde Mongrel von denjenigen, die an ›Rehearsal of Memory‹ beteiligt waren, einer CD-ROM, die zusammen mit den Patienten/Gefangenen von Ashworth, einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt, produziert

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9 (Nine) (Harwood, Graham), 2003

wurde.« [14] Auf ihre Website sagt Mongrel über sich selbst und die Teilnehmer an ihren Workshops »Es ist unser Job, in den Workshops Motivation freizusetzen: unsere eigene, damit wir den Workshop machen wollen, und die der anderen, damit sie daran teilnehmen möchten.«

Alle Aktivitäten von Mongrel drehen sich letztlich um die Beteiligung des Publikums. In diesem Essay würde ihre Arbeit sowohl in die Kategorie physisches Interface als auch in die Kategorie Software passen, aber die Hingabe, mit der die Gruppe durch körperliche Begegnungen und Bildungsangebote den Kontakt zu Menschen herzustellen versucht, hat mich immer am meisten fasziniert. Die Art und Weise, wie sich Mongrel sozialen, kulturellen und politischen Systemen oder Strukturen nähert, ist dekonstruktiv und experimentell. Um nochmals Harwood zu zitieren: »Wir widmen uns der Aufgabe, jenes Selbstbild der Gesellschaft zu bekämpfen, demzufolge diejenigen, die ›intellektuellen Beschäftigungen‹ nachgehen, und diejenigen, die ›kulturell angesehene Events‹ besuchen, den Niederungen des politischen Konflikts enthoben sind.« [15]

Offenbar sucht Mongrel nach neuen Möglichkeiten der Weltbetrachtung sowie nach neuen Sprachen, um diese Welt zu beschreiben. Mongrels radikale Haltung kommt in selbst entworfenen Werkzeugen zum Ausdruck, so dass ihre Workshops sich zwangsläufig radikal von gewöhnlichen kommerziellen Software-Workshops unterscheiden. So ging es etwa bei »(9) Nine«, einer Softwarearbeit, die Graham Harwood während seiner Zeit als Artist in Residence bei De Waag, Amsterdam, entwickelte, darum, Menschen, die sehr wenig über Computer und das Internet wissen, in die Lage zu versetzen, ihre eigenen Geschichten in diesen Medien und mit deren Hilfe zu erzählen. In Workshops mit Nachbarn, Frauen jungen Mädchen, aber auch älteren Menschen im Amsterdamer Schwarzenviertel De Bijlmer wurden die ersten Benutzer dieser Software in die Welt der Hyperlinks und Uploads eingeführt.

Doch nicht nur die Software wird mit großer Sorgfalt entworfen; Mongrel wendet sich auch ganz bewusst an ein spezifisches Publikum, nämlich die Öffentlichkeit im demokratischsten Sinne dieses Begriffs. Dies impliziert eine gewisse Offenheit,

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Großzügigkeit und ein politisches Bewusstsein seitens der Künstler. In Harwoods E-Mail heißt es: »[Mit der] sozialen Software ist es schwierig: alle diese komplizierten und heiklen sozialen Verhältnisse, Armut, schlechte Bildung – die Frustrationen und Erwartungen der Leute. […] Alle Workshops sind unterschiedlich, ob es darum geht, einen Tag lang in Südafrika oder im australischen Hinterland oder daheim in die Schuhe der Nachbarn zu schlüpfen, oder einfach nur darum, mit meiner Mutter zu arbeiten. Die Intelligenz der Leute kommt auf verschiedene Weise zum Ausdruck, je nachdem mit wem sie zusammen sind (mit Mongrel) und in welchem Kontext sie arbeiten.« Diese Workshops sind für jede Person oder Personengruppe maßgeschneidert. Um nochmals aus Harwoods E-Mail zu zitieren: »Mit anderen Leuten zusammenarbeiten, das ist das, was wir alle tun, ganz unabhängig davon, in welcher Subkategorie der Medienkunst wir tätig sind. Es ist einfach nur ein Teil der Technologie und Netzwerke. Die Frage ist, mit wem man zusammenarbeitet und warum.«

Etoy: »Etoy.Daycare«

Die internationale Gruppe Etoy hat innerhalb und außerhalb des Internets verschiedene Performances gemacht. Fragt man ihre Mitglieder, woher sie kommen, antworten sie: aus dem Netz. Ihre Haupttaktik besteht darin, sich korporatistischer Strategien zu bedienen, um daraus, mit ihren Worten, »kulturellen Profit« zu schlagen. Es geht ihnen darum, die Sphäre der Kultur zu erweitern, aber nicht durch finanzielle Unterstützung, sondern durch die Bereitstellung kultureller Produkte. Entscheidend ist letztlich, dass die Etoy-Shareholder keinen finanziellen Gewinn machen; die Gegenleistung für ihr Engagement besteht darin, dass Etoy mehr Kunst machen kann oder dass mehr Kunst produziert wird.

Etoy hatte schon immer ein eher schroffes Image; das mag am konsequenten Einsatz eines korporatistischen Brandings liegen, welches bei allen Aktivitäten der Gruppe im Vordergrund steht (leuchtend orange Overalls, große Etoy- Logos überall, das Zurücktreten der einzelnen Etoy-Mitglieder hinter dem Etoy-Image-Panzer; außerdem ist Etoy online eine der wenigen Kunstsites, die eine .com Domäne benutzen). Doch da Etoy seine Aufmerksamkeit

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inzwischen einer neuen Generation zuwendet, beginnt ihr Image, sich etwas aufzuhellen. Etoy hat ein Projekt namens »Etoy.Daycare« in Angriff genommen, bei dem »neue Etoy-Akteure ausgebildet« werden. Es wurde in Turin (Italien) und unlängst in Amsterdam (Niederlande) realisiert. Auf der »Etoy-Daycare«-Website heißt es: »[…] wir konfrontieren Kinder mit einer ersten Dosis experimentellen Lebensstils und versuchen, in ihnen ein nachhaltiges Interesse für die Kunst zu wecken« In Amsterdam gelang es Etoy, nicht weniger als 130 junge Etoy-Akteure im Alter von 6 bis 11 Jahren auszubilden; im Prinzip heißt das, dass 130 Kinder an Workshops beteiligt waren, in denen sie sich mit körperlichen und technischen Spielen befassten, von der Benutzung eines Notausgangs (einer aufblasbaren Rutsche) bis hin zur Gestaltung des Inneren eines Etoy-Containers am Computer. Anschließend nehmen die Kids ihren eigenen Pass, einige Etoy-Anteile und Informationen, mit denen sie ihre eigene Etoy-Webseite besuchen können, mit nach Hause.

Man sollte sich nicht davon täuschen lassen, dass die Dokumentation des Projekts in einem aufgeblasenen korporatistischen Tonfall gehalten ist,denn durch seine Installation im öffentlichen Raum der Stadt und den kostenlosen Zugang zum Workshop erreicht dieses Projekt ein sehr breites Publikum. »Etoy.Daycare« ist eines der ganz wenigen neuen Medienprojekte, das Kinder wirklich erfolgreich einbezieht und inspiriert. Während des Workshops in Amsterdam hielten sich Kids aus der Gegend in der Nähe des Containers auf, in dem das Projekt untergebracht war, spielten dort mit Luftkissenpolstern und versuchten, von den zuständigen Etoy-Mitarbeitern diesen oder jenen Werbeartikel zu erhalten (Aufkleber, Plaketten, Etoy-Anteile in Form kleiner Stahlmurmeln). Etoy gelingt es, Kindern eine Ahnung von Kunst, von Technologie und sogar von einer sanften Form von Subversion zu vermitteln. Die Kids lernen sogar einen geheimen Händedruck, an dem sie weltweit andere Etoy-Akteure erkennen können. Dieses Projekt ist alles zugleich: Installation, Workshop und ein Zugangstor zur Medienkultur.

Wie die Kunst in der alten Public Domain (Public Domain 1.0) scheint die Kunst der neuen Public Domain, die vermittelte, virtuelle Räume einbezieht,

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ARTEX (Adrian X, Robert), 1980

nach wie vor eine Art Ortsverbundenheit zu kennen. Doch diese Ortsverbundenheit äußert sich vor allem in einer gewissen Intimität, einer Intimität persönlicher oder kultureller Art, die nicht zwangsläufig mit einem bestimmten physischen Ort, sondern eher mit einem Treffpunkt zusammenhängt. Die Kunstwerke für diese neue Public Domain spiegeln Wandelbarkeit und Instabilität wider, auch wenn dies manchmal unfreiwillig geschieht, weil sie veralten oder infolge technischer Veränderungen von der Bildfläche verschwinden.

Zusammenarbeit und gemeinsame Urheberschaft: Kunsträume online

Seit der Frühzeit des Internets und sogar schon seiner Vorläufer scheinen sich Onlinekunstpraktiken auf Kommunikation konzentriert zu haben. Dies veranschaulichen jene Projekte, die sich im Rückblick als die einflussreichsten erwiesen haben. Mailinglisten, schwarze Bretter, kooperative Websites und Kunstserver bildeten und bilden den Kern der Netzkunstcommunities. [16] Einige von ihnen waren für die Entwicklung und Akzeptanz von Kunst im Netz ausgesprochen wichtig, doch man kann darüberstreiten, ob diese Projekte selbst wirklich Kunstprojekte sind. Besonders verwirrend ist ihre Rolle als Plattform für die Entwicklung neuer Diskurse und Repräsentationen, da Kunstprojekte allgemein als das Eigentum ihrer Urheber angesehen werden und Kunstwerke, die noch in der Entwicklungsphase stecken, in gesellschaftlicher, politischer und anderer Hinsicht nur einen geringen oder gar keinen Einfluss ausüben. Onlinekunsträume definieren den Kontext von Kunstprojekten und die Herangehensweise an sie unmittelbar und bieten zugleich den Kontext und Inhalte für Diskurse über Medientheorie, Medienaktivismus und Technologie.

Alle hier besprochenen Projekte haben die Entwicklung der Diskurse nachhaltig geprägt, nicht nur im Umfeld der Netzkunst, sondern auch in puncto Medienaktivismus und Medientheorie. Sie alle wurden von Künstlern initiiert, auch wenn die Künstler es irgendwann vorziehen, sich selbst nicht mehr als Künstler und ihre Werke nicht mehr als Kunst zu bezeichnen. Ein konkreter Ausgangspunkt lässt sich nur um den Preis möglicher Ungenauigkeit benennen. Projekte wie »Artex« von Robert Adrian X, das als

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The Thing (Staehle, Wolfgang), 1991

früher Doppelgänger eines schwarzen Bretts mit Hilfe eines Vorläufers des Internets geschaffen wurde, und sogar Rena Tangens und Padeluuns »Bionic« Bulletin Board oder das in Kalifornien beheimatete, aber internationale The Well stellen ein Bündel von Foren dar, die zwar nicht von Künstlern ins Leben gerufen wurden, aber sehr einflussreich waren und als Inspirationsquellen oder frühe Labors der Netzkultur von historischer Bedeutung sind. Doch die einflussreichsten Projekte in der Kategorie künstlerische Treffpunkte und - plattformen entstanden zu Beginn und in der Mitte der 1990er Jahre.

The Thing

Das erste bedeutendere Projekt war The Thing, das der Künstler Wolfgang Staehle aus der Taufe hob. The Thing war ursprünglich ein Bulletin Board System, eine Art schwarzes Brett, doch kamen später Erweiterungen hinzu, etwa regionale Filialen in verschiedenen europäischen Städten, die ein Netzwerk von The-Thing-Knotenpunkten bildeten. Die sichtbarste Veränderung aber erfuhr The Thing, als anlässlichseiner Präsentation in der Ars-Electronica-Ausgabe von 1994 eine Webschnittstelle eingerichtet wurde.

In den 1980er Jahren arbeitete Staehle als Videokünstler. Etwa drei Jahre nach der Gründung von The Thing sagt er in einem Interview mit Dike Blair: »Ich habe es ursprünglich als Kunstprojekt konzipiert; aber durch die Hinzufügung der anderen Knotenpunkte änderte sich natürlich alles.« [17] Einige Jahre später erklärt er: »Für mich ist es egal [ob The Thing Kunst ist, J.B.]; das müssen die Historiker entscheiden.« [18] The Thing war demnach als Kunstprojekt konzipiert worden, doch der Künstler hatte das Gefühl, dass sich mit der Veränderung und Ausweitung der Funktionen des Projekts auch seine Definition veränderte. In einer E-Mail jüngeren Datums formuliert es Staehle folgendermaßen: »Anfangs begriff ich The Thing als eine Art konzeptuelles Kunstprojekt, als etwas, das nach dem Motto ›Kunst von allen, Kunst für alle‹ funktionierte.« Er glaubte, das Ganze würde höchstens etwa einige Monate dauern. In der Zwischenzeit hatte The Thing jedoch zahlreiche Veränderungen durchlaufen und war eine vielschichtige Plattform geworden, die zum Beispiel aus Mailinglisten,

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Webseiten mit Künstlerpräsentationen, einem Abschnitt mit Rezensionen sowie einem kommerziellen Unternehmen bestand, durch das dies alles aufrechterhalten wurde.

Obwohl The Thing im Gegensatz zu vergleichbaren Projekten Mühe hat, finanzielle Unterstützung zu erhalten, [19] war es in den letzten Jahren eine Zufluchtsstätte für einige ebenso umstrittene wie einflussreiche Kunstprojekte. Die Kunstaktivitäten von Ricardo Dominguez und RTMArk bereiteten The Thing beträchtliche Schwierigkeiten. Es ist unwahrscheinlich, dass derartige Projekte auf anderen lokalen USPlattformen möglich gewesen wären. The Thing ist nicht nur ein auf Zusammenarbeit basierendes konzeptuelles Kunstprojekt, sondern stellt auch die Mittel – vom Diskurs und der Theorie bis zur Technologie und dem Zugang – bereit, damit sich andere Projekte entwickeln können. Es ist eine der Spinnen im Web. Wolfgang Staehle schreibt hierzu in einer E-Mail: »Ich begreife es gerne als Labor, in dem Menschen ihren Neigungen und Interessen in einem kooperativen Umfeld nachgehen können. Online und offline.«

Dies bringt mich auf einen anderen Aspekt von Künstlerplattformen im Netz. Staehles Erwähnung des Offlineteils von The Thing, ein Büro und Treffpunkt in New York, erinnert uns an etwas, das im Zusammenhang mit der Herangehensweise aller Kunst im digitalen Bereich leicht unterschätzt wird, nämlich ihre Verwurzelung in einer tatsächlichen physischen Welt der Technologie und Offlinekulturen. Onlinenetzwerke sind automatisch mit Offlinenetzwerken verbunden, auch wenn sie weit über diese hinausreichen. Viele Onlinekunstplattformen sind auch mit physischen Treffpunkten verknüpft, und es ist von der jeweiligen Situation abhängig, welcher von beiden wichtiger ist, der Online- oder der Offlineraum. Offensichtlich waren auch die stärksten Onlinekunst-Environments von den physischen, sozialen Netzen abhängig, aus denen sie hervorgegangen sind. Reine Onlineräume profitieren indirekt ebenfalls von diesen Netzwerken, indem einflussreiche Diskurse und Kulturen, die auf physischen Netzwerken basierten, in ihnen propagiert werden.

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De digitale Stad (DDS) (De digitale Stad (DDS)), 1994

Public Netbase und andere frühe europäische Medienlabore und Onlineplattformen

Es dauerte einige Jahre, bis sich ab 1994 die große Welle bedeutender künstlerischer Plattformen herausbildete. Wie Konrad Becker, ein Künstler und Initiator von Public Netbase und worldinformation.org in einem Interview sagte: »Man sollte Internetjahre wie Hundejahre mit sieben multiplizieren.« [20] Folgt man diesem Rat, erscheinen die zwei oder drei Jahre Unterschied zwischen der Entwicklung von The Thing und anderen Projekten als große Kluft. In dieser Zeit bauten die international tätigen Medienkünstler und -theoretiker ein effektives physisches Netzwerk auf, das die Grundlage für viele zukünftige Onlineprojekte bilden sollte. Doch da die technologische Infrastruktur teuer und schwer zugänglich war, dauerte es eine ganze Weile, bis die großen, vom Internet geweckten Hoffnungen sich realisieren ließen. Die Entwicklung von Medienlabors und digitalen Städten half dabei, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Künstler waren bei der Errichtung verschiedener Medienlabore und Kunstserver beteiligt,von denen viele anfangs als Kunstprojekte konzipiert wurden.

1994 trug der holländische Künstler Walter van der Cruijsen dazu bei, in Amsterdam De Digitale Stad (DDS; die Digitale Stadt) ins Leben zu rufen. Allerdings wurde DDS nicht als Kunstprojekt konzipiert. [21] DDS schaffte es, dass Menschen aus den gesamten Niederlanden zum ersten Mal online gingen, was dazu führte, dass das Projekt in den alten Medien ausführlich besprochen wurde. International war DDS Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und scheint zur Gründung anderer Initiativen und Onlinecommunities beigetragen zu haben. Es könnte aber auch sein, dass die Einrichtung von Onlinetreffpunkten damals einfach ›in der Luft‹ lag. Doch unabhängig davon, wen was letztlich inspirierte, wurden später im selben Jahr einige andere Initiativen ins Leben gerufen, die für die Entwicklung der Netzkunst sehr einflussreich sein sollten: Public Netbase in Wien, Internationale Stadt in Berlin und cybercafe.org, irational.org in London. [22] Letzteres war ausschließlich ein Onlineprojekt, wie dies auch DDS primär gewesen war, während es bei den anderen auch physische Treffpunkte gab. Und mit Ausnahme

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von DDS wurden alle diese Projekte von Künstlern als Kunstprojekte konzipiert.

In einem E-Mail-Interview schreibt Becker: »Tatsächlich habe ich dies als eine Fortsetzung meiner künstlerischen Arbeit empfunden […] ja sogar als die Logik einer neuen künstlerischen Praxis in einer Informationsnetwerkgesellschaft, weg von Artefakten und dem einzigartigen künstlerischen Gestus […] Da ich bereits während meiner Prä-Internet- Inkarnationen als elektronischer Musiker, Performer und Künstler kleine, temporäre Plattformen machte und Events konzipierte, ergaben sich daraus ganz natürlich Projekte wie [Public] Netbase und WIO [world-information.org].« Die Internationale Stadt wurde unter anderem von den Künstlern Karlheinz Jeron und Joachim Blank kreiert. Per E-Mail teilt mir Jeron mit, dass auch dieses Projekt anfangs als Kunst aufgefasst wurde: »Ganz am Anfang von IS (1994) betrachteten es zumindest die meisten von uns als Kunstwerk. Nach einer Weile erwies es sich dann als etwas, das ich als soziokulturelles Projekt mit einem kommerziell orientierten Teil bezeichnen würde.« irational.org ging dagegen vor allem auf die Initiative des Künstlers und Aktivisten Heath Buntingzurück. Auf die Frage, ob er irational.org jemals als Kunstprojekt angesehen habe, schreibt er: »Ja, die Form und der Prozess des Projekts waren genauso wichtig wie seine Funktion.«

Es mag unwichtig erscheinen, ob die Initiatoren dieser Projekte ihre Werke anfangs für Kunst hielten oder nicht. Doch die Tatsache, dass sie es taten, zeigt, dass die Grenzen eines Kunstwerks nicht einfach nur verschwimmen, sondern dass sich dieser spezifische Typus von Kunstwerk im Verlauf seiner Entwicklung fast vollständig auflöst. In den Worten von Heath Bunting: »Ich war schon immer der Meinung, dass ein gutes Kunstwerk eigentlich unsichtbar […], sofort inkorporiert und schnell als etwas Gegebenes betrachtet werden sollte. Also nicht als etwas Selbstverständliches, sondern als etwas in Folge ständiger Benutzung Demokratisches.« [23]

Tatsächlich wurden diese Projekte fast schlagartig inkorporiert, und ihre Funktion übertraf schon rasch diejenige jedes anderen Kunstwerks. Sie boten nicht nur Zugang zum Internet und Webspace, sondern überdies Bildungsangebote und eine aktive Einstellung gegenüber der Entwicklung von Netzkulturen.

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nettime (Schultz, Pit; Geert Lovink), 1995

nettime

Einer derjenigen, die das Diskussionsforum von The Thing in den frühen 1990er Jahren frequentierten, war Pit Schultz, ein Künstler aus Berlin, der sich mit Medienkunst und Medienaktivismus befasste. Derzeit ist er Teil von bootlab in Berlin und außerdem an dem über Antenne ausgestrahlten und online verfügbaren Radioprojekt Reboot.FM beteiligt. Gemeinsam mit dem Medientheoretiker Geert Lovink gründete er 1995 bei einem Treffen von Künstlern, Theoretikern und Medienaktivisten auf der Biennale von Venedig die Mailingliste nettime. [24] Sie lässt sich insofern in mancher Hinsicht mit The Well vergleichen, als dessen digitale Gemeinschaft ebenfalls sehr stark auf einem physischen Netzwerk beruhte. An die Stelle der Live-nettime-Meetings, denen in den ersten Jahren großes Gewicht beigemessen wurde, sind heute neue Initiativen (Festivals, Konferenzen) von altgedienten und neuen nettime-Mitgliedern getreten. Diese Community verbindet ein gemeinsames Interesse an Medienaktivismus und Informationspolitik. Eine solche Gemeinschaft mag vielleicht nicht gerade als daswahrscheinlichste ›natürliche Umfeld‹ für Künstler erscheinen, doch Zugang zu und Entwicklung von physischen, das heißt technischen Bestandteile der Medien sowie der Zugriff auf diese sind natürlich auch für Medienkünstler von zentraler Bedeutung, unabhängig davon, ob sie sozial oder politisch engagiert sind oder nicht. Man kann nettime auch als das theoretische Rückgrat der Medienlabore aus der Mitte der 1990er Jahre bezeichnen. Eine Weile war es die Plattform, auf der Menschen, die lokal an ähnlichen Projekten arbeiteten, verschiedene Themen auf internationaler Ebene diskutieren konnten (dies ist nach wie vor der Fall, doch heute steht gegenüber der Kunst der Aktivismus wesentlich stärker im Vordergrund als in den ersten Jahren). Onlinedialoge konnten den Radius der Offlinetreffen oder -projekte deutlich erweitern. nettime bot großartige Repräsentationsmöglichkeiten und viele mittlerweile sehr bekannte Künstler veröffentlichten oder präsentierten ihr Werk hier, wo es zum ersten Mal seine Wirkung entfaltete. Die bekanntesten nettime-Künstler sind diejenigen, die man gemeinhin mit Netzkunst in Verbindung bringt, aber auch Künstler

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wie Jordan Crandall, Cornelia Solfrank, Ricardo Dominguez, Paul Garrin oder Margarete Jahrmann nahmen daran teil und setzten nettime auf unterschiedliche Weise ein. Crandall etwa veröffentlichte dort schöne, poetische Texte. [25] Im Rahmen ihres »SuperFem«-Projekts postete Jahrmann männliche Versionen der damals populären ASCII-Pornobilder. [26] Garrin, der Initiator des »Namespace«-Projekts, hatte sich auf die Fahnen geschrieben, das Monopol auf die Vergabe von Domainnnamen für das Internet zu brechen. Er entführte die komplette nettime-Mailingliste, nachdem dort eine Moderation installiert worden war, und nannte seine Version der Liste »nettime-free«, was einige Mitglieder in Rage versetzte, da sie dies als eine Verletzung ihrer Privatsphäre empfanden.

Man könnte sagen, dass nettime nicht nur der Veröffentlichung von Ankündigungen oder Aufrufen zur Zusammenarbeit für Kunstprojekte diente, sondern dass viele Künstler die Liste als einen Ort benutzten, an dem ein Teil ihres Werks Gestalt annehmen konnte. Die ihr zugrunde liegende Gemeinschaft und ihre Erwartungen waren das Ziel und/oder das Publikum vonVerschiedenem, von fiktiven Kongressankündigungen über Erklärungen bis hin zu Interventionen. Das Projekt nettime verwandelte sich in einen öffentlichen ›im Werden begriffenen‹ Raum für Werke, die in der Public Domain 2.0 Kunst ›sein würden‹. Dies führte zu einem heftigen Streit zwischen akademischen Theoretikern (und anderen), die lediglich mit der Netzkritik zusammenhängende Themen diskutieren wollten, und den experimentellen Künstlern. Die Installation des Moderatorenteams sowie Beschwerden über angebliche Streiche und andere ›merkwürdige‹ E-Mails von Künstlern führten dazu, dass nach dem ersten nettime-Treffen 1997 in Ljubljana nahezu alle Netzkünstler nettime gleichzeitig verließen, um ihre eigene Liste zu gründen [7-11].

Der Kunst- oder Nicht-Kunst-Status von nettime ist nach wie vor umstritten. Auch wenn nettime auf einem Kunstfestival begann und viele Gründungsmitglieder der Gruppe einschließlich eines der Initiatoren Künstler waren, dürfte Kunst so ziemlich die letzte Kategorie sein, mit der die Community derzeit in Verbindung gebracht werden will. Dennoch wurde nettime unlängst eingeladen, in der New Yorker Eyebeam

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Gallery auszustellen, und nur kurze Zeit später von der Ars Electronica aufgefordert, an einem Wettbewerb um ihren neuen Preis für digitale Gemeinschaften teilzunehmen. Beide Einladungen führten in der Liste zu amüsanten Reaktionen auf die falschen Vorstellungen, die Außenseiter offenbar häufig von den Mailinglist-Gemeinschaften haben.

Doch welchen Status nettime auch immer hat, klar ist, dass die meisten Teilnehmer dem Kunstkontext äußerst skeptisch gegenüberstehen, wenn sie ihm nicht sogar völlig aus dem Wege gehen, wie aus einer Antwort Beckers auf eine meiner E-Mail-Anfragen zwischen den Zeilen deutlich wird: »Ich bin jetzt in einer Stimmung, ich der ich kein Problem mehr damit habe, mich wieder zu meiner Kunstidentität zu bekennen […] (Tatsächlich hatte ich es häufig als ein ziemlich nutzloses Attribut aufgefasst, das kompromittiert war und von allen ernsthaften Absichten ablenkte…) Doch mit dem zunehmend feindseligen Klima gegenüber der Kunstpraxis (und dem offenbar erbärmlichen Image, das sie in Listen wie nettime hat), bin ich durchaus bereits, mir diesen Schuh wieder anzuziehen. Jedenfalls ist es besser, alsein kreativer Industriearbeiter zu sein ;-) Und wenn wir die Straßen und das Netz zurückfordern, dann können wir ebenso gut die Kunst zurückfordern!«

Nichtsdestotrotz bleibt nettime ein Bollwerk der Netzkritik, eine sehr interessante Mailingliste und eine ergiebige Informationsquelle. Die Stärke von nettime besteht vor allem in seinem soliden physischen Netzwerk und den regelmäßigen Treffen von Kritikern, Theoretikern und Aktivisten; dies wurde von seinen Initiatoren auch schon häufig betont und macht es zu einer wertvollen Basis für andere Projekte. [27] Mit den Jahren haben sich Mailinglisten, vor allem solche mit Onlinearchiven und Mitgliedern, die sich regelmäßig treffen, als die konsequentesten Träger der Medienkulturen und Wissensquellen erwiesen, nicht nur wegen ihrer Onlinearchive, sondern auch wegen ihrer langjährigen Mitarbeiter. Gleichwohl kam auch nettime nicht umhin, sich zunehmend in Richtung eines Magazins oder einer Verlagsgruppe zu entwickeln, statt weiterhin ein Kooperationsprojekt aller seiner Mitglieder zu sein.

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Rhizome

Möglicherweise wurde Rhizome ein wenig von nettime inspiriert. Sein Initiator Mark Tribe begann das Projekt 1996 als er noch in Berlin lebte, wo er wahrscheinlich Pit Schulz und vielleicht sogar Geert Lovink traf. In jenen Tagen, als Rhizome sich noch stärker an der Kunst orientierte, galt es sogar als Konkurrent von nettime. Die meisten Netzaktivitäten, die ich in diesem Abschnitt beschreibe, stehen nicht im Ruf, Kunstprojekte zu sein, und wurden auch nicht als solche initiiert. Rhizome hingegen schon. Tribe hat Rhizome häufig als Kunstprojekt präsentiert, auch wenn er sich selbst nicht als Urheber von Rhizome bezeichnet. »Ich begreife Rhizome als soziale Plastik. Insofern könnte man es als Kunstwerk betrachten«, schreibt Mark Tribe in einer E-Mail. »Das heißt aber nicht, dass ich es als eines meiner Kunstprojekte empfinde. Ganz im Gegenteil verstehe ich es als Kooperationsprojekt, an dem im Lauf der Jahre viele Tausende Teilnehmer beteiligt waren […] Ich habe eine führende Rolle bei der Entwicklung von Rhizome gespielt, und ich spreche über Rhizome, wenn ich mein Werk präsentiere, aber ich stehe nicht in einem Besitz- oder Eigentumsverhältnis dazu.« Der Begriff »sozialePlastik« geht auf Joseph Beuys zurück und scheint für Onlineunternehmungen durchaus angemessen, doch zugleich ist er ein wenig problematisch, wenn er auf große Projekte angewendet wird, die zahlreiche Ableger produzieren. »Den Künstlern fehlten Foren für die Präsentation und kritischen Auseinandersetzung mit ihrem Werk, die Kritiker hatten keinen Publikationsort für ihre Texte, und den Kuratoren ermangelte ein Platz, um Künstler zu entdecken, die in diesem neuen Medium arbeiteten«, sagt Tribe in einem Interview mit Randy Adams von TrAce. »Ich empfinde es nach wie vor sehr stark als eine Grassroots-Community mit einer nicht-hierarchischen Struktur. Bis zu einem gewissen Grad haben wir uns institutionalisiert, doch unsere Hauptprinzipien sind nach wie vor eine möglichst viele Teilnehmer umfassende Kommunikation sowie Inklusivität.« [28]

Rhizome ist definitiv die erfolgreichste Kunstplattform, die es im Internet je gab. Sie wird jeden Monat millionenfach kontaktiert und hat Tausende von Mitgliedern. Allerdings kann man sich fragen, ob man noch von einer Gemeinschaft und Zusammenarbeit sprechen kann, wenn »auf jeden

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Teilnehmer etwa 100 Lurker, also passive Konsumenten, kommen«. [29] Trotz des Versuchs, demokratische Auswahlprozesse zu finden (etwa durch die Einrichtung von Super-Usern, die beim Redigieren oder Zusammentragen von Informationen helfen), verwandelten allein die Zahl der Mitglieder und die Hierarchien, die sich in einer solchen Organisation nolens volens entwickeln, Rhizome in eine Art Kunstinstitution, mit all den positiven und negativen Folgen, die so etwas mit sich bringt. Allein die Auswahl der Kunstwerke für die Rhizome- Datenbank war eine Weile Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen.

Für viele seiner Mitglieder hat sich Rhizome als äußerst leistungsfähiges Modell in puncto Repräsentation und Selbstpropagierung erwiesen, doch von einem endgültigen Urteil über seine Struktur und Vorzüge sind wir noch weit entfernt. Ich frage mich manchmal, ob wir je einige der den sozialen und ökonomischen Prozessen innewohnenden Fehler vermeiden können, die durch die Instabilität und die unvermeidlichen Managementstrukturen innerhalb kooperativer Kunstprojekte verursacht werden. Hinsichtlich einer konstruktiven Kritik derselbenstehen wir noch am Anfang, doch Projekte mit dem Umfang von Rhizome und nettime dürften diesen Prozess sicherlich beschleunigen.

Neue Vielfalt: Sarai, Furtherfield, Netartreview, Empyre

Die bisher in diesem Abschnitt beschriebenen Listen und Plattformen wurden alle vor 1997 initiiert. Seither haben es die meisten Verteiler und anderen Onlinerepräsentations- oder Onlinediskussionsplattformen vermieden, sich selbst als »soziale Plastik« oder andere interdisziplinäre Kunstformen zu beschreiben. Die ständig wachsende Anzahl von Menschen, die online gehen, im Verbund mit einer zunehmenden Zahl von Plattformen, Websites und Verteilern hat auch zu einer Diffusion der Diskurse und einer Auffächerung der Szenen neuer Medienkunst geführt. Es wird immer schwerer, Repräsentationen und maßgebliche Debatten zu erzeugen; dies geht soweit, dass sich Online- und Offlinetaktiken nur noch geringfügig voneinander unterscheiden. Dies hat zu einer steigenden Physikalität der Onlinepraktiken geführt: Das Ausmaß in dem sie mit physischen Netzen

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Empyrean (Rackham, Melinda)

und Institutionen verbunden sind, ist so groß, dass Onlinekulturen dazu neigen, von Offlinepraktiken, -netzwerken oder -strukturen überholt zu werden.

Ein offensichtliches Beispiel hierfür ist die Institutionalisierung des gesamten Feldes der neuen Medienkunst, einschließlich dessen, was einst als Netzkunst galt, ein Gebiet, das sich angeblich außerhalb des Einzugsbereichs jeglicher Kunstwelt befand. Die weiter oben beschriebene Institutionalisierung der Onlineplattformen ist dabei ein völlig anderes Thema, auch wenn es ebenfalls mit einer Institutionalisierung der sie unterstützenden Offlineinitiativen zusammenhängt. Am deutlichsten tritt dies im Gefühl der Ausgegrenztheit seitens früherer Zielgruppenmitglieder zutage oder in dem Wunsch, den Zugang zu einem eigenen, abgegrenzten Raum zu vereinfachen, in dem eine intimere und konzentrierte Atmosphäre für Debatten und Forschungsvorhaben herrscht. In den letzten Jahren haben Initiativen wie das On- und Offlinemedienlabor Sarai, die Websites und Mailings von Furtherfield, Netartreview und der Verteiler Empyre die Entwicklung der Onlinekulturen bereichert. Es bleibt abzuwarten, welchen Einfluss sielangfristig ausüben werden, doch was ihr eigenes Publikum und ihre Netzwerke betrifft, gehören sie bereits zu den wichtigen Akteuren (auch wenn sich natürlich einige von ihnen mit anderen, älteren Onlineinitiativen überschneiden). Obwohl nur Furtherfield sich selbst ebenfalls als eine Art »soziale Plastik« oder Kunstwerk begreift, kann man sich fragen, ob nicht auch Empyre und Netartreview dem Status von Kunstprojekten sehr nahe kommen. Furtherfield und Netartreview wurden beide als eine Art Alternative zu Rhizome entwickelt. Empyre war ursprünglich sogar Teil eines Kunstprojekts von Melinda Rackham mit dem Titel »Empyrean«, hat sich dann aber offenbar in eine andere Richtung bewegt.

Sarai New Media Initiative orientiert sich stark an europäischen Medienlabors wie desk.nl und Public Netbase. [30] Da es sich vor allem mit Kritik und politischen Auseinandersetzungen befasst, scheint es eher ein Gemeinschaftsprojekt mit den Schwerpunkten Netzzugang und Wissensverteilung zu sein als ein Kunstprojekt, doch es hat auch eine künstlerische Seite, und einige seiner Initiatoren sind Künstler. Das Raqs Media Collective, Teilnehmer der Documenta 11,

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Opus (Raqs Media Collective), 2001

war einer der Mitbegründer von Sarai, und zusammen mit ihnen hat Sarai ein Open Source-Softwareprojekt namens OPUS entwickelt. Sarai gibt es sowohl on- als auch offline, und seine materielle Basis befindet sich in Dehli, Indien. Es befasst sich mit wesentlich mehr verschiedenen Kommunikations-, Forschungs- und Entwicklungsebenen als die anderen in diesem Abschnitt präsentierten Beispiele. Aufgrund seiner ehrgeizigen und inspirierenden Konzentration auf die Medienkritik und schöpferische öffentliche Gruppen in Asien ist Sarai im Kunstkontext besonders interessant. Die Netartreview (NAR) [EL] wurde von Eduardo Navas initiiert, der ebenfalls Künstler ist. In einer E-Mail schreibt er: »NAR bietet jedem die Gelegenheit, sich kritisch zu äußern oder etwas über Kunst zu erfahren. […] Unser Format erlaubt eine große Toleranzbreite; doch während jeder Mitarbeiter in dem von ihm bevorzugten Stil schreiben kann, haben wir hinsichtlich der behandelten Themen sehr genaue Vorstellungen. […] Der Fokus der Netartreview verlangt, dass die Autoren ihre Beiträge wesentlich ernster nehmen, als sie einfach nur an eine Liste zu posten.«

Der Schriftsteller Marc Garret ist einer der beidenInitiatoren von Furtherfield [EL], war aber auch an cybercafe.org und irational.org beteiligt. Über Furtherfield als Alternative zu Rhizome schreibt er in einer E-Mail: »Ich würde gerne darauf hinweisen, dass das Internet ohne Rhizome ärmer wäre, und ich hoffe, dass diejenigen, die Rhizome betreiben, dasselbe gegenüber uns empfinden. Bringen Sie die anderen Soft Groups dazu, ihre eigenen Alternativen anzubieten – es gibt nicht nur einen oder zwei Wege; wir haben unseren gefunden und verändern uns entsprechend.« Auf die Frage, was das Spezifische am Angebot Furtherfields sei, antwortet er: »Flexibilität, Achtung und ein Schritt hinaus über die voreingenommene Gestaltung der Geschichte durch die Institutionen.« Sowohl Furtherfield als auch Netartreview bieten teilweise jene Kunstkritik, an der es in den Onlinediskursen zuvor so mangelte. Sie stellen nicht nur Alternativen zu Rhizome dar, sondern auch eine wichtige Ergänzung. Netartreview bietet viele kurze Schnellrezensionen, während Furtherfield etwas langsamer ist und den Dingen stärker auf den Grund zu gehen scheint. Beide offerieren das, was auch Rhizome und andere Onlinepublikationsplattformen im Angebot

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haben, das heißt, sie bieten der Öffentlichkeit die Chance, ihre eigenen Ansichten zu präsentieren und in verschiedene Kunstdiskurse einzutreten oder diese zu verändern. Empyre ist eine sehr aktive und interessante Mailingliste für eine Vielzahl von Kunstschaffenden. Mit geladenen Gästen wird darin an bestimmten Themen gearbeitet, und die Dialoge in der Liste sind in der Regel von hoher Qualität. Wie Melinda Rackham in einer E-Mail erläutert, begann »›Empyre‹ als die textuelle Seite des Multi-User-3DEnvironments ›Empyrean‹. Es sollte eine intime Liste sein, eine Möglichkeit, Aspekte der Online-Kultur, 3D-Kultur, Medien-Kunstkultur mit geladenen Gästen zu diskutieren, die Texte geschrieben, vor allem Online-Kunstprojekte gemacht oder Ausstellungen kuratiert hatten, die nicht unbedingt mainstream oder besonders publicityträchtig, aber wichtig waren«. Dank der Vielfalt der Themen und der hervorragenden Gastautoren ist Empyre die interessanteste Liste, (zumindest) um einen Eindruck vom derzeitigen Stand der Dinge in der neuen Medienkunst in allen ihren Spielarten zu gewinnen.

Software: Mediale Schichtungen, tragbare Medienräume und Medien als Metapher

Man kann die These vertreten, der elektronische Medienraum transzendiere seine rein technischen Strukturen durch den Einfluss, den er auf (nicht-technologische) Kulturen ausübt. Software ist ein Code, der eine Maschine dazu veranlassen kann, etwas zu tun, aber im Wesentlichen ist sie eine Sprache mit einer Bedeutung, die einflussreicher ist als die Sprache, derer wir uns bedienen, um miteinander zu kommunizieren. Es handelt sich um ein Kommunikationsmittel, das etwas bewirken kann, allerdings nur während des Zeitraums, in dem es real zum Einsatz kommt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Sprache tot ist, wenn man sie nicht benutzt, sondern nur, dass sie in diesem Zeitraum ruht. Augenscheinlich ist diese Sprache auch nicht von einem bestimmten Umfeld wie etwa einem bestimmten Computertyp oder Betriebssystem abhängig Software kann nahezu unabhängig von der Hardware sein, auf der sie eingesetzt wird, und auch die Kulturen, aus denen sie hervorgeht, scheint sie kraft ihrer immateriellen Natur zu transzendieren. Kurzum

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Software scheint irgendwie ein unabhängiger Raum zu sein. Eine andere Dimension, wenn man so will.

Durch die Entwicklung von Künstlersoftware [31] wurde der öffentlich zugängliche Bereich mit einer Künstlerpraxis geschmückt, die nur teilweise sichtbar und materiell ist, aber über die Fähigkeit verfügt, etwas auszuführen, zu agieren und uns agieren zu lassen. In theoretischer Hinsicht ist die Künstlersoftware ein äußerst aufregendes Gebiet, da es solch eine große Bandbreite an möglichen Handlungen und Absichten umfasst, dass es große kreative Herausforderungen bereitstellt, die sowohl in der modernen als auch in der vormodernen Tradition zu Hause sind. Diese Software lässt uns an dem modernen, kreativen Genie des Künstlers oder der Künstler teilhaben, wobei wir zugleich in ihre Werkstatt kommen. Mittels der Künstlersoftware treten wir fast buchstäblich in die künstlerische Praxis ein, doch zugleich ist diese Software Teil unserer Intim-, unserer Privatsphäre und eines größeren technokulturellen Kontextes. Diese Merkmale sind eine Gemeinsamkeit aller Software, doch Künstlersoftware führt uns in den ungewöhnlichen, den experimentellen und den relativ offenen Raum der Kunst.

Der Grund, warum ich Softwarekunst als die dritte spezifische Kunstpraxis der Public Domain 2.0 einstufe, ist die freie Zugänglichkeit und häufig sogar die Veröffentlichung als Open Source eines Großteils dieser Software. Außerdem explodierte die Entwicklung der Softwarekunst (und anderer experimenteller Software) aufgrund der im Internet vorliegenden Beispiele, Anschluss-, Wissens- und Austauschmöglichkeiten regelrecht. Auf einem Symposium zum Thema Open Source im V2 in Rotterdam erklärte Rashib Aijer Gosh: »Die Softwareentwicklung ist ein sozialer Prozess, der auf Spaß, Stolz und einem Sinn für Gemeinschaft basiert.« [32] Ohne das Internet wäre diese Art von Kunst völlig marginal, und daher vertrete ich die These, dass ein Großteil der Softwarekunst Teil der Public Domain 2.0 ist, selbst wenn man sie auf einer allein stehenden Maschine benutzt.

Softwarekunstkontext

Der Bereich des Digitalen hatte schon in den 1960er und 1970er Jahren die Fantasie der Künstler beflügelt,

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vor allem auf dem Gebiet der Concept Art. Im Kunstkontext wurden einige interaktive Werke auf Computern erstmals 1970 in der Ausstellung »Software« präsentiert, die von Jack Burnham kuratiert wurde und unter anderem Werke von Les Levine, Hans Haacke und Joseph Kosuth zeigte. Burnham erläuterte »Software« als »den Versuch, ästhetische Gefühle ohne dazwischen tretenden ›Gegenstand‹ zu erzeugen«. [33] Doch um zu verstehen, was Softwarekunst heute bedeutet, werden wir uns zwei spezifische Projekte ansehen, nämlich »WebStalker« und »RunMe.org«.

WebStalker

1997 entwarf die britische Gruppe I/O/D (Matthew Fuller, Simon Pope, Colin Green) einen sehr ungewöhnlichen Webbrowser: »WebStalker« ist ein alternativer Webbrowser, der Webseiten anders darstellt, als man es normalerweise erwartet. Er visualisiert den zugrundeliegenden HTML-Code auf höchst ästhetische Weise mittels dünner Linien, die auf einer Karten von zentralen Punkten ausgehen und Sterne oder miteinander verbundene Knotenpunkte in einem Netz bilden. Im Vergleich zu kommerziellenBrowsern wie Netscape und Explorer haben sie ein nahezu traumartiges Erscheinungsbild. »WebStalker« macht deutlich, wie ein Browser funktioniert statt tatsächlich so zu funktionieren, wie man es von einem Browser erwartet (das heißt, Bilder und Texte auf der Grundlage eines Codes zu visualisieren). »Bei der Gestaltung kam es darauf an, dass er habgierig ist und Langeweile nicht toleriert«, erklärt Matthew Fuller in einem Interview mit Geert Lovink »Gleichzeitig hoffen wir, dass er die Leute als spekulatives Softwarewerk dazu ermutigt, das Net als einen Ort zu behandeln, in dem man Dinge neu erfinden kann […] Der ›WebStalker‹ macht deutlich, dass es noch andere potentielle Kulturen gibt, die für das Web von Nutzen sein können.« [34]

Es gibt andere nützliche Kulturen jenseits der industriell gestalteten: Kulturen, die uns die Möglichkeit geben, mit der Maschine, mit anderen Menschen und mit anderen Kulturen online etwas zu kreieren, uns auszutauschen und frei miteinander zu interagieren. Mit anderen Worten, Kulturen, die es begrüßen würden, wenn der öffentliche Charakter des Internets noch stärker zutage träte. Fuller hat seine

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Experimente mit Softwarekulturen in anderen Kooperationen fortgesetzt Er hat unter anderem als Autor und Theoretiker für Mongrel gearbeitet, und sein Werk war sehr wichtig für die Entwicklung und Anerkennung von Softwarekunst. Außerdem ist er als Kritiker und Juror in »ReadMe« und »RunMe« tätig.

RunMe.org

Während I/O/D mit ihrer Praxis experimenteller Software 1997 relativ alleine dastanden, lässt sich dies heute nicht mehr sagen. Das ReadMe-Software-Kunstfestival und seine Onlinedatenbank mit herunterladbarer RunMe-Software (2002 initiiert) sind Initiativen der Künstlers Alexei Shulgin und der Forscherin/Autorin Olga Goriunova, die die Softwarekunst auf eine neue Stufe gehoben haben. Die ReadMe-Software-Kunstfestival erklärt, warum Softwarekunst als Kunst in der Public Domain aufgefasst werden kann: »Einerseits bringt Softwarekunst Softwarekultur in den Kunstbereich, doch andererseits weitet sie die Kunst über die Institutionen hinaus aus.« Außerdem fungieren die Projekte »ReadMe« und »RunMe« auch als Vermittler zwischen den Feldern der Kunst- und derOpen-Source-Softwareproduktion. In der Einleitung des ReadMe- Readers schreiben Shulgin und Goriunova: »Kunstfestivals […] werden häufig durch mangelnde Transparenz bei den Einreichungs- und Bewertungsprozessen kompromittiert. […] Open-Source-Gemeinschaften sind wesentlich demokratischer, haben aber ebenfalls Nachteile: Sie richten ihr Hauptaugenmerk auf Funktionalität und pragmatische Erwägungen und übergehen daher manchmal interessante Projekte, weil sie sie in diesem Kontext für überflüssig halten.« [35] Ein weiterer amüsanter Aspekt dieses Projekts besteht darin, dass die Organisatoren und die Jury (ganz in der Tradition des Frühwerks von Alexei Shulgin als Netzkünstler [36] ) offenbar nicht umhinkonnten, Softwarekunst als klar definierte Disziplin zu unterwandern. Indem sie die Möglichkeit einer nahezu endlosen Anzahl von Softwarekategorien installierten, aus denen die Anwender auswählen oder denen sie etwas hinzufügen können, und indem sie den Leuten Gelegenheit gaben, der Datenbank ›gefundene‹ Softwarewerke hinzuzufügen, wird die Definition von Softwarekunst derart überstrapaziert, dass »RunMe« selbst als

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Kunstprojekt erscheint. Shulgin und Goriunova erklären dies folgendermaßen: »Kunst widersetzt sich naturgemäß der Klassifikation, wird aber nichtsdestoweniger klassifiziert und mit einem Etikett versehen, sobald sie zum Beispiel auf Ausstellungen und Festivals präsentiert wird. Indem es sich der vertrauten Schnittstelle einer Online-Software- Datenbank bedient, konnte RunMe.org mit der Idee des Speicherns, Klassifizierens, Etikettierens, Sammelns spielen und sich zugleich die demokratischen Möglichkeiten offener Datenbanken zunutze machen.« [37] Augenscheinlich sind mit »RunMe« nahezu alle Praktiken der Kunstinstitutionen – ob Auswählen, Kritisieren oder Archivieren von Werken – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.

»ReadMe« und »RunMe« enthüllen und offerieren Softwarekunst nicht nur als eine neue Kunstform in der Public Domain, sondern sie verändern auch den Kunstkontext, so dass er der Natur dieser Werke entspricht. In einem gewissen Sinne haben sich diese beiden Projekte selbst in Institutionen der flexibelsten Art für die Public Domain 2.0. verwandelt.

Der Virus als Intervention: Forkbomb

Der italienische ›Rastacoder‹, Programmierer und Künstler Jaromil begann 2002 mit spezifischen Kunstprojekten. Davor hatte er sich vor allem als Programmierer und Kurator einen Namen gemacht. So fungierte er etwa 2002 als Mitkurator der Computerviren-Ausstellung »I Love You« in Frankfurt und deckte als Autor fast das gesamte Spektrum an Textgattungen vom Roman bis zum Softwarebuch ab. Der am einfachsten anmutende Code, den er je schrieb, war ein Computervirus für das UNIX-System, ein so genannter Forkbomb-Code, der sich solange reproduziert, bis er überlastet ist und die Maschine, auf der er sich befindet, zum Absturz bringt. Florian Cramer, Softwarekunstkritiker und Jurymitglied der transmediale in Berlin und der »ReadMe«-Softwarekunstinitiative, bezeichnete diesen Code als »den elegantesten Forkbomb, der je geschrieben wurde« [38] . Das besonders Interessante an diesem Werk sind meines Erachtens nicht, dass es einen Computer zum Absturz bringen kann oder dass sein Erscheinungsbild (es aussieht, als habe man einige ASCII-Smilies ineinanderkrachen lassen :(){:|:& };: ) von

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Forkbomb (McLean, Alex), 2001dot.walk (socialfiction.org)

derart eleganter Schlichtheit ist, sondern sein Kontext und die Absichten seines Autors. Jaromil selbst schreibt: »Ich stelle Viren als poésie maudit, als giambi dar und wende mich damit gegen diejenigen, die das Net als sicheres Terrain für eine bürgerliche Gesellschaft verkaufen. […] Die digitale Domäne produziert eine Form von Chaos, die manchmal unangenehm, weil ungewöhnlich, dabei jedoch auch fruchtbar ist und in der man herumsurfen kann: In diesem Chaos sind Viren spontane Kompositionen, die deshalb poetisch sind, weil sie in Maschinen, die zum Dienen gemacht sind, Unvollkommenheiten produzieren und so den Aufstand unserer digitalen Sklaven darstellen.« [39] Jaromils »Forkbomb« ist eine Form öffentlicher Rebellion (er macht kein Geheimnis aus seiner Identität oder seinen Absichten), die an einen freien Raum in den digitalen Medien erinnert, der für das allgemeine Publikum fast unsichtbar geworden ist. In diesem Sinne ist es wie viele andere Projekte, vor allem einige neue Medienperformances, auch eine Einladung [40] , die Sache selbst ein wenig spielerisch anzugehen. (siehe auch Alex McLeans »Forkbomb«)

Konzeptuelle Software: ».walk«

Man stelle sich vor, man läuft durch eine Stadt, um auf diese Weise einen Code in die Wirklichkeit umzusetzen. Das Projekt ».walk« von Wilfried Houjebek verwandelt Menschen in Softwarerealisatoren aus Fleisch und Blut. Im Fall von ».walk« schreibt ein Computercode die Bewegungen der Teilnehmer in einer Stadt vor; die Komplexität dieser Bewegungen hängt sowohl vom Grundcode ab als auch davon, ob die Teilnehmer auf ihrem Weg anderen Teilnehmern begegnen oder nicht. Da der Code nicht für einen spezifischen physischen Raum verfasst wurde, kann es sein, dass er unterwegs geändert werden muss, damit sich die Teilnehmer weiterbewegen können (etwa wenn sie in eine Sackgasse geraten). Alle Bewegungen werden vom Künstler zentral als Ergebnis eines spezifischen Durchlaufs von ».walk« gesammelt.

».walk« basiert auf einer situationistischen Kunstpraxis aus den 1950er Jahren, die als Psychogeografie bezeichnet wurde. Houjebek, seit langem ein Vertreter der Open Source und des Anti-Copyright in den Künsten und anderswo, nimmt sein Bemühen, Codes offen zu legen, sehr ernst. Indem

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er Menschen durch eine Stadt laufen lässt und sich dabei des Computercodes als Orientierungsgröße bedient, benutzt der Künstler den Körper als Mittel, um eine Software ›zum Laufen‹ zu bringen. In seiner Rezension von ».walk« auf der »RunMe«-Site bezeichnet Florian Cramer diese Software als »walkware«. Und tatsächlich gewann ».walk« im Softwarekunstwettbewerb der transmediale einen Preis In der E-Mail, in der die Nominierung von ».walk« bekannt gegeben wurde, hieß es: »›walk‹ von socialfiction.org ist ein futuristisches Projekt für öffentliche Räume, das Alltägliches mit Außergewöhnlichem verbindet.« Houjebek selbst sagt in einer E-Mail: »Ich betrachte es als einen Do-It-Yourself-Urbanismus; ein Projekt wie ›.walk‹ soll den Städten eine neue Funktionalitätsebene hinzufügen. Deswegen handelt es sich hier um Architektur und zugleich um Technik.« Man könnte meinen, dieses Projekt gehöre eigentlich in den Abschnitt über Performance, doch tatsächlich geht es bei ».walk« ausschließlich um die Notation, um einen zutiefst konzeptuelle Reaktion auf die Kunst.

Dieses Werk scheint eine Brücke zwischen demAnsatz früher konzeptueller Kunstausstellungen mit Titeln wie »Information« (1970) oder »Software« (1970) und dem Werk heutiger Künstler-Programmierer zu schlagen. [41] Neben seinen Bemühungen, auf der Grundlage eines Computercodes bestimmte Wegstrecken zu konstruieren, »einen Fußgängercomputer zu programmieren«, entwickelt Houjebek auch Code, eine Beschreibungssprache, der die Erfahrungen eines Fußgängers zugrunde liegen. Dieser Code wird PML: Psychogeographical Markup Language genannt. Außerdem entwickelt Houjebek auch etwas namens OOP, Object Oriented Psychogeography, das er als »Software für Landschaften« bezeichnet, die »dich aus den Latschen kippen lässt«.

».walk« ist eine Form von künstlerischer Software, bei der es sich in doppelter Hinsicht um Kunst in der Public Domain handelt: Erstens als Notation, als Code, den man auf einem Computer laufen lassen kann und der auf dieser Ebene eine Aktivitätsraum und eine Interaktion ist, und zweitens als die physische Interpretation eines Informationsraums. Ich würde sogar sagen, es ist ein Programmierkurs für digitale

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Analphabeten (und das Folgende ist keinesfalls negativ gemeint) da die spielerische Herangehensweise an den Code ein wenig an das Einüben des Alphabets in der Sesamstraße erinnert. Außerdem gibt es, wie bei einem Großteil der neuen Medienkunst, keine Möglichkeit, das Projekt allein von außen zu beurteilen, wie dies ein traditionelles Publikum tun würde. »Es gibt kein Publikum im herkömmlichen Sinne, entweder man ist ein Teilnehmer, oder man ist es nicht«, schreibt Wilfried Houjebek. »Zuzusehen, wie andere Leute ›.laufen‹ (›.walk‹), dürfte genauso spannend sein, wie eine schlafende Ameise zu beobachten.«

Softwarekunst ist das semiklaustrophobische technische Äquivalent der Intimität neuer Medienkulturen. Es handelt sich teils um neue Medienkulturen, teils um individuelle Kunstpraxis und teils um Anwenderinteraktion oder -ausführung. Es ist eine teils öffentliche und teils private Kunsterfahrung. Der Softwarekunstraum lässt die User oder das Publikum über die gängigen Schnittstellen oder Verfahren hinausschauen und mag die Benutzer sogar veranlassen, sich selbst an einem Code zu versuchen. Softwarekunst, sowohl als Ganzes wie als individuellesWerk, bietet neue Perspektiven auf die Kunst in der Public Domain. Kunst in der Public Domain 2.0 kann wie die Public Domain selbst fassbar und unfassbar sein, tragbar im physischen und im metaphorischen Sinne des Worts. Sie verfügt nicht zwangsläufig über einen realen festen Platz oder eine bestimmte Form und – das ist das Entscheidende – sie reicht bis nach Hause oder in die Privatsphäre.

Public Domain 2.0 Redux

Ob beabsichtigt oder nicht ist Kunst in Informationsnetzen nahezu zwangsläufig Teil der Public Domain 2.0 (solange der Zugang zu ihr nicht irgendwie versperrt ist und man das Werk durch einen einfachen Mausklick oder das Verfolgen eines Links erreichen kann). Gleichwohl hat es den Anschein, als habe die Public Domain 2.0 zu einigen spezifischen Kunstpraktiken geführt. Die erste, die sich wirklich daraus entwickelt hat, war die konnektive Performance. Performance und sonstige physische Interaktionen mit einem Publikum führen zu größtenteils temporären Erweiterungen von Medienräumen, die unterschiedliche, häufig von den

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Absichten des Künstlers abhängige Formen der Beteiligung ermöglichen (das Ent- oder Verhüllen technologischer Systeme, die Einladung an das Publikum, sich zu beteiligen oder einfach nur ›einzutauchen‹). Eine weitere ist die Künstlerplattform, ein Raum sozialer Onlineinteraktion, der Repräsentation und den Austausch von Ideen und Werken bietet, aber auch die Entwicklung einflussreicher Medienkunstdiskurse ermöglicht. Die dritte, Softwarekunst, sollte sich etwas langsamer entwickeln, wahrscheinlich weil es länger dauerte, die technischen und kulturellen Fertigkeiten zu meistern, die mit der Herstellung von Software verbunden sind, als sich auf das Publikum und Gleichgesinnte innerhalb und außerhalb des Netzwerks einzulassen.

Doch auch die Rollen des Kritikers und des Kurators haben sich wesentlich verändert, auch wenn dies innerhalb der institutionellen Praxis nur langsam akzeptiert wird. Kritiker und Kuratoren wurden wieder Teil des Publikums und umgekehrt. Die Kunstkontexte und das Publikum sind auf lokale, ja sogar persönliche Ebenen der Beteiligung implodiert. Das bedeutet, wir müssen nach neuen, professionellen Beziehungen zurKunst suchen. Ich hoffe, mit diesem Text zumindest teilweise eine theoretische Basis für den Umgang mit Kunst in den neuen Medien und der Public Domain 2.0 geliefert zu haben. Mir scheint, dass wir vor allem eine praktische Handhabung der Kunstkritik benötigen, um zeitgenössische Kunstpraktiken entsprechend einstufen und beurteilen zu können. Nach der Akzeptanz der Abstraktion, der Reproduktion und des rein Konzeptuellen in den Künsten, ist es an der Zeit, erneut eine neue Ästhetik zu akzeptieren: diejenige, die Beziehungen und Dialoge zwischen Kunst und Publikum in der profunden und doch distanzierten Intimität des technologischen Umfeld repräsentiert. Aufgrund des industriellen Beigeschmacks des Wortes ›Interaktion‹, das in diesem Umfeld am häufigsten benutzt wird, sollte man vielleicht einen Begriff verwenden, der stärker an persönliche oder soziale Hingabe gemahnt. In den neuen Künsten geht es um Engagement. Dieses Engagement verlangt eine bewusstere Herangehensweise an das mediale Umfeld, in dem die Künstler, das Publikum, aber auch die Kritikern und Kunstinstitutionen heute arbeiten. Da sich die neue Public Domain nicht nur auf das Zuhause

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erstreckt, sondern auch auf die Kunstinstitutionen (mittels ihrer Medien oder Netzwerk-Präsenz wie Websites, Onlineforen, E-Mail-Services innerhalb einer umfangreicheren Palette von Mediennetzen), sind Kunstinstitutionen und Kritiker Teil der intimeren und offeneren, öffentlich zugänglichen Diskurse geworden, die häufig von Künstlern geprägt und gestützt werden. Kunst in der Public Domain 2.0 ist daher in allererster Linie eine Site der Medienbewusstheit und der Machtkämpfe.

(Die gesamte in diesem Text zitierte E-Mail-Korrespondenz mit der Autorin fand zwischen April und Juli 2004 statt.)

Übersetzung: Nikolaus G. Schneider

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