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Themenicon: navigation pathBild und Tonicon: navigation pathSound & Vision
Sound & Vision in Avantgarde & Mainstream [1]
Dieter Daniels
 

Für die multimediale Darstellung des Themas dieses Textes hätte man Anfang der 1990er Jahre noch verschiedene Bild- und Tongeräte gebraucht: einen Diaprojektor, einen Videorekorder, ein Audiocassettentapedeck oder einen Audio-CD-Player. Nur zehn Jahre später lässt sich dies alles auf einer digitalen Plattform integrieren und damit auf dieser Website in Text, Bild und Ton online aufbereiten. Der Computer als so genannte universelle Maschine ersetzt viele einzelne, getrennte Medienapparate, er ist gleichzeitig Bild-, Ton-, und Textmaschine. Scheinbar reduziert sich die Differenz von Bild und Ton also nur noch auf verschiedene Datenformate. [2] Doch wenn sich per Knopfdruck Videodaten mit Audiodaten verbinden und umgekehrt [3] – hat dann die Technik schon alle Gattungsgrenzen überwunden und wird das Multimedia-Gesamtkunstwerk zur Selbstverständlichkeit? Wohl kaum. Deshalb, ehe wir zur Kunst kommen, ein paar grundsätzliche Überlegungen.

Wahrnehmung – Physik – Kunst

Lassen wir uns von der Medientechnik der universellen Maschine nicht täuschen: Bild und Ton sindphysikalisch völlig getrennte Phänomene. Schallwellen sind Luftschwingungen, deshalb ist es auch im luftleeren Weltall so völlig still. Licht nennen wir den für Menschen sichtbaren kleinen Teil des elektromagnetischen Spektrums, dessen Bandbreite von den Mikrowellen in der Küche bis zu den Langwellensendern des Radios reicht. Salopp gesagt: Diese Phänomene sind sich so fremd wie ein Pferd und ein Motorrad.

Es gibt nur einen Ort auf der Welt, an dem Licht und Schall in eine Wechselwirkung treten, die weit über alle Technik und Physik hinausreicht: in der menschlichen Wahrnehmung. Hier entsteht die Synästhesie von Bild und Ton. Sie wird zum künstlerischen Erlebnis, zum audiovisuellen Rausch und zur fast religiösen Ekstase. Der Fackeltanz in der Urhöhle, die Orgelmusik zum Licht gotischer Kirchenfenster, die barocke Feuerwerksmusik, die Wagner-Oper, das Psychedelic-Rock-Konzert, die Techno-Party – sie alle frönen der synästhetischen Lust an Audiovisionen [4] (vgl. den Text »Das klingende Bild – über das Verhältnis von Kunst und Musik. Ein kunsthistorischer Rückblick« von Barbara John).

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Augenklavier (Castel, Louis-Bertrand)

Seit Jahrtausenden schon suchen Menschen nach einem Naturgesetz der Verwandtschaft von Farben und Tönen. Doch jenseits der subjektiven Zuordnungen, die zum Beispiel von ›warmen‹ oder ›kalten‹ Klangfarben sprechen, lassen sich hier keine objektiven Beziehungen herstellen. Es bleibt deshalb ein unerreichbares Ziel, das Geheimnis einer solchen kosmischen Harmonie zu finden, die dem heutigen Stand der Physik widerspricht. Von der Antike bis in den Barock gibt es dazu gelehrte Traktate und sogar erste Apparate. [5] So hat der Jesuitenpater Louis- Bertrand Castel ab 1725 mehrfach ein so genanntes ›Augenklavier‹ beschrieben. Er brachte es damit zu einiger Berühmtheit, ohne dass man weiß, ob es je funktionierte. Castels Interesse war vor allem erkenntnistheoretisch, nicht auf eine praktische Realisierung des Geräts gerichtet. [6]

Tatsächlich gibt es schon vor aller Medientechnik eine direkte Farb-Ton- Verbindung, doch diese findet nur im Wahrnehmungsprozess selbst statt, sie ist weder erklärbar noch beobachtbar, außer für den Betroffenen, der sie selbst erlebt. Manche Menschen haben die Fähigkeit oder den Zwang zursynästhetischen Wahrnehmung in ihrem gesamten Alltagsleben. Wenn sie Musik hören, erscheint ihnen die Welt farbig, sie sehen bunte Muster. Um dies auch anderen Menschen mitteilbar zu machen, entstehen wiederum Kunstwerke (vgl. die Darstellung des synästhetischen Erlebnisses zu einem Klavierkonzert von Schostakowitsch von Matthias Waldeck). Diese Fähigkeit scheint angeboren zu sein, denn als Kinder halten sie das für normal, erst später merken sie, dass andere Menschen diese Farben nicht sehen. Sie verschweigen dann oft ihre Erlebnisse, um nicht als verrückt zu gelten. Die Hirnforschung untersucht seit den 1990er Jahren diese psychischen Phänomene. [7] Sie nutzt dabei die Synästhesie als Modellfall zur Erforschung der Funktionsweise menschlicher Wahrnehmung, nebenbei hilft sie außerdem diesen Menschen, ihre bunte Welt zu genießen statt darunter zu leiden.

Kulturindustrie – Medientechnik – Avantgarde

Den Gegenpol zu dieser innerlichen, manchmal sogar heimlichen Verbindung von Musik und Bild liefern die massenmedialen, publikumswirksamen Marktstrategien

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der Medienindustrie: kein Hit in den Charts ohne Videoclip, zu jedem Blockbuster- Film gibt es die Titelsongs auf CD, das Fernsehen sucht den ›Superstar‹ und so weiter. Wir leben heute in einer audiovisuellen Kommerzkultur, deren Triebkraft aber die uralte Sucht nach synästhetischen Erlebnissen bleibt. Um ihr immer neues Futter zu geben, arbeitet die Medienindustrie an der Kopplung von visuellen und akustischen Produkten. So treibt die Erweiterung der Märkte wiederum die Entwicklung der Medientechnik und diese von neuen Produktformaten voran. Gibt es aus diesem Kreislauf kein Entkommen?

Doch, so lautet die hier vertretene These, die Geschichte lässt sich auch anders darstellen. Gewiss, die Synthese von Bild und Ton ist ein alter Traum der Menschheit. Aber seit circa 140 Jahren meinen wir es ernst mit diesem Traum. An seiner Realisierung arbeiten seit circa 1870 bis heute Künstler und Erfinder, Bastler und Unterhalter. An der Schnittstelle von Bild und Ton begegnen sich dabei ästhetische und technische Innovationen. Künstlerisches Experiment, obsessive Bricolage und echte technische Erfindungen entstehen hier im Wechsel von Begeisterung undVerzweiflung, von Erfolg und Scheitern. Nur einige wenige dieser Ergebnisse werden schließlich, meist erst sehr viel später, von den Massenmedien in den Mainstream der Vermarktung gespült. Aller audiovisuellen Kommerzialisierung zum Trotz bleibt die Synthese von Bild und Ton bis heute ein offenes Feld des Experiments, eine künstlerische und technische Herausforderung. Heute spielen dabei die Medienformate der Bilder und Töne eine ebenso wichtige Rolle wie die institutionellen und kommerziellen Regeln von Musik und Bildkünsten. Zugleich bleibt die Synthese von Bild und Ton bis heute auch eine Schnittstelle von Avantgarde und Massenwirkung. Künstlerische Konzepte nehmen die Mainstreamkultur oftmals um Jahrzehnte vorweg, ohne dabei allerdings direkt als Vorbilder zu dienen. Stattdessen könnte man von einem ›Durchsickern‹ von High zu Low durch die Sedimente kultureller Zeitschichten sprechen. Diese Antizipation beziehungsweise Neuerfindung im veränderten Kontext ist nicht zu verwechseln mit der wechselseitigen Appropriation von Avantgarde und Massenkultur.

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Die Vorgeschichte audiovisueller Medien und Künste 1870—1910

Schon ganz am Beginn der Mediengesellschaft, seit der zweiten Hälfte des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, gibt es zahlreiche Ansätze zu einer Synästhesie, bei der Kunst und technische Invention oft kaum zu trennen sind: Erfinder bauen Farborgeln, Lichtklaviere und ähnliche, heute vergessene Apparate – andererseits versuchen Maler, Musik in Bilder zu fassen, und ebenso wollen Komponisten ihre Musik visualisieren. [8]

Einer dieser vielen Apparatebauer ist Frédéric Kastner, der 1870 sein Pyrophon erfindet. Dieses neuartige Instrument, das durch farbige Gasflammen zugleich Licht und Töne erzeugt, nutzt den physikalischen Effekt der so genannten »singenden Flammen«. Es ist ein Zwitter aus Musik und Physik, aus Kunst und Experiment. Das hier Klang aus Licht gewonnen wird, verheißt den Zeitgenossen eine Annäherung an die schon lange gesuchte kosmische Harmonie der Natur. [9] Deshalb erregt es auch das Interesse von Richard Wagner, der es als gelungene technische Umsetzung seinesGesamtkunstwerk-Gedankens sieht und es in seinen Opern einsetzen will. Aber die Bankrotterklärung von Wagners Sponsor, König Ludwig II., durch den bayrischen Staat machte der königlichen Verschwendungssucht ein Ende.

Wagners Opern können als Urahnen der multimedialen Audiovisionen gelten. In diesem Sinne lautet ein viel sagender Buchtitel »Multimedia from Wagner to Virtual Reality« [10] . Für Wagner haben schon um 1850 die Einzelkünste Malerei, Tanz, Musik und Dichtung das Ende ihres Fortschritts erreicht, nur noch ihre Synthese im von ihm erstrebten ›Gesamtkunstwerk‹ kann dies überwinden. Deshalb soll das von ihm beschriebene »Kunstwerk der Zukunft« letztlich nichts anderes als eine Oper von Wagner sein. [11] Seine Vision der Oper als Gesamtkunstwerk wurde nach vielen Rückschlägen schließlich ab 1873 einem seltsamen, ja von außen sogar hässlichen Gebäude verwirklicht, dem Festspielhaus Bayreuth. Erst von innen wird die Konstruktion dieser gebauten ›Medienmaschine‹ deutlich: Eine extrem tiefe Bühne erzeugt ein

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Lohengrin Präludium (Fantin-Latour, Jean Theodore), 1877

perfektes Raumbild, das Orchester bleibt für die Zuschauer unsichtbar, es wird in einen engen Schalltrichter gesteckt. Die optimale Akustik des halbrunden Zuschauerraums, ohne die sonst üblichen Logen, erzwingt die volle Konzentration auf das Bühnengeschehen, kein Seitenblick auf das ›Who is who‹ in den Rängen. Orchester und Bühne sind nicht mehr als getrennte Orte wahrzunehmen, sondern Musik und Bild verbinden sich im Kopf. Dieses Prinzip finden wir heute in jedem Kino, doch damals war es eine Sensation. Der Erfolg gibt Wagner Recht, bis heute werden im Festspielhaus Bayreuth jedes Jahr ausschließlich seine Opern vor einem internationalen Highsocietypublikum gespielt – und die Karten sind fünf Jahre im Voraus ausverkauft!

Zeitgenössische Maler, Dichter und Denker sind zutiefst beeindruckt von diesem Proto-Cinema, das noch ganz ohne Filmtechnik und Elektrizität auskommt. 1877 hat das Präludium von Wagners »Lohengrin« den Maler Jean Theodore Fantin-Latour so fasziniert, dass er es in einem fast schon abstrakten Bild darstellt: »Lohengrin Präludium«, 1877. Friedrich Nietzsche und Charles Baudelaire gehören ebenso zu deneuphorischen Zeitzeugen, die Wagner in ihren Schriften feiern und dazu beitragen, ihn zum würdigen Vorläufer heutiger Popstars zumachen. Nietzsche prägt den Begriff ›Hörspiel‹, der erst viel später mit der Einführung des Radios gängig wird, um die Wechselwirkung von Bild und Ton bei Wagner zu beschreiben: »Seine Kunst führt ihn immer den doppelten Weg, aus einer Welt als Hörspiel in eine rätselhaft verwandte Welt als Schauspiel und umgekehrt.« [12] Und Baudelaire berichtet in einem Brief an Wagner von einem synästhetischen Farberlebnis beim Anhören seiner Musik, sogar ohne je in Bayreuth gewesen zu sein. [13] Dieses Erlebnis bildet den Ausgangspunkt seiner an Wagner exemplifizierten Theorie der Moderne.

Anstelle der von der Antike bis zum Barock vergeblich gesuchten direkten, objektiven Entsprechung von Farben und Tönen verlagert Wagner die Bild-Ton- Koppelung an ihren eigentlichen Ort, die subjektive menschliche Wahrnehmung. Sein Gesamtkunstwerk inszeniert eine komplexe Wechselwirkung zwischen Musik, Theater und Bühnenbild. Aus einer ästhetisch begründeten

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Phonograph (Edison, Thomas Alva), 1877Kinetoscope (Edison, Thomas Alva)Kinetograph Theater (Edison, Thomas Alva)

Notwendigkeit heraus entwickelt er dabei Darstellungstechniken, die schon viele Wirkungen der audiovisuellen Medien vorwegnehmen.

Die Entstehung dieser audiovisuellen Medien beginnt tatsächlich fast zeitgleich, aber sie folgt keiner ästhetischen Notwendigkeit, sondern pragmatischen Motiven. 1877, im Jahr der »Lohengrin«-Premiere, baut weit weg von Bayreuth, in Menlo Park in New Jersey Thomas Alva Edison ein Mediengerät, mit dem sich erstmals in der Menschheitsgeschichte Zeit speichern lässt: den »Phonograph«. Diese Erfindung ist eigentlich ein fast zufälliges Nebenprodukt seiner Arbeit an verbesserten Telegrafieapparaten und Edison weiß zunächst nichts so recht damit anzufangen. Deshalb beginnt er, Thesen über die mögliche Verwendung des Phonographen zusammenzustellen, denn nur dann lässt die Erfindung sich auch verkaufen. Im Unterschied zu Kastners Pyrophon will Edison keine ästhetischen Effekte demonstrieren, sondern vermarktbare Produkte herstellen. Das heißt, das Pyrophon ist eine ästhetische Maschine, die ihren Zweck so wie ein Kunstwerk in sich selbst hat, der Phonograph hingegen soll eine pragmatische Maschine sein, die hergestelltund verkauft wird, weil jemand sie für etwas gebraucht. Der Phonograph macht Edison zwar weltberühmt, bleibt aber kommerziell ein Flop, da sich zunächst keine Verwendungsweise des neuen Mediums durchsetzen kann. Die Weiterentwicklung seiner Erfindung bringt Edison zum bewegten Bild, zu seinem Filmprojektor namens »Kinetoscope« und ebenso zur ersten Filmkamera. Er muss dazu nur die »Chronophotographie« von Eadweard Muybridge auf eine dem Phonographen ähnliche Apparatur übertragen, die nun Bilder statt Töne abspielt. Und Edison versucht sich auch schon an der Kombination dieser beiden Erfindungen, um so in seinem »Kinetograph Theater« Bild und Ton zu synchronisieren.

Die Folgen reichen bis heute: Auf der Synthese von Wagners ästhetischem Effekt und Edisons technischen Erfindungen beruht der Erfolg der audiovisuellen Medien, der unsere heutige Lebensform prägt. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Aus Edisons beiden Erfindungen entstehen Grammofon und Film und damit zunächst eine Trennung von Bild und Ton: Die Schallplatte nimmt der Musik alles Visuelle und der

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Stummfilm zwingt seine Schauspieler zur übertriebenen Gestensprache sowie den Zuschauer zum Lesen der Zwischentitel. Trotz dieser technischen Hindernisse verändern Film und Grammofon ab 1910 die Welt. Es sind standardisierte Abspiel- und Verbreitungsmedien ohne eigenen Inhalt, und sie dienen zunächst vor allem der Distribution bewährter Kulturformen. Die Zukunft gehört also den pragmatischen Maschinen, nicht den ästhetischen.

Hier ließe sich ein Exkurs anfügen zu den zahlreichen Apparatebauern der Synästhesie im frühen 20. Jahrhundert: Die Farborgeln von Wallace Rimington und Alexander Burnett Hector, die Farblichtmusik von Alexander Laszlo, Anatol Graf Vietunghoff-Scheels Chromatophon, Mary Hallock Greenewalts Sarabet, Thomas Wilfreds Clavilux, Raoul Hausmanns zwar patentiertes, aber nie gebautes Optophon, um nur die bekanntesten zu nennen. [14] Doch alle diese Ansätze enden auf vergleichbare Weise in einer Sackgasse. Sie bleiben ein Zwitter zwischen Kunstwerk und Apparat, die aufwändigen Geräte zeigen nur die Kompositionen ihrer Erbauer. Sie sind das ganze Gegenteil von universellen Maschinen: hoch spezialisierte,individualistische Maschinen, die darum, metaphorisch gesprochen, auch zusammen mit ihren Erfindern ›sterben‹ und in Vergessenheit geraten. Keinem diese Künstler- Erfinder gelingt es, dass seine Invention von Nachfolgern genutzt, gepflegt und weiterentwickelt wird. Das unterscheidet sie von Wagners Kultstätte Festspielhaus Bayreuth, die bis heute Kosten deckend ihren Betrieb aufrecht erhält und dennoch nur die Werke ihres Herren zeigt. Dieser Exkurs wäre eine Geschichte des Scheiterns der Synästhetik an der damals noch unüberwindbaren Differenz von ästhetischen und pragmatischen Maschinen.

Frühe Avantgarde der audiovisuellen Medien in den 1920er Jahren

Um 1920 macht sich eine neue Generation von Künstlern auf den Weg, die ästhetische Spezifik der audiovisuellen Medien zu erproben – und hier beginnt die eigentliche Geschichte dessen, was heute ›Medienkunst‹ heißt. Als erstes Medium erproben sie den Film. Zu den Pionieren gehören Dziga Vertov, Man Ray, Hans Richter , László Moholy-Nagy, Viking Eggeling und als erster aber bis heute unbekanntester: Walter Ruttmann

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o.T. (Ruttmann, Walter), 1918Lichtspiel Opus I (Ruttmann, Walter), 1921

Walter Ruttmann. Er beginnt wie die meisten als Maler, doch 1918 malt er sein »o.T. (Letztes Bild)«.

Seine Visionen für eine Kunst jenseits der Malerei sind so weitreichend und konkret, dass es sich lohnt, sie ausführlicher zu zitieren. Ruttmann schreibt über das »Tempo unserer Zeit: Telegraf, Schnellzüge, Stenografie, Fotografie, Schnellpressen […] haben zur Folge eine früher nicht gekannte Geschwindigkeit in der Übermittlung geistiger Resultate. [ … Dadurch] ergibt sich für das Einzelindividuum ein fortwährendes Überschwemmtsein mit Material, demgegenüber die alten Erledigungsmethoden versagen«. In dieser »erhöhten Geschwindigkeit, mit der die Einzeldaten gekurbelt werden«, liegen auch »die Gründe für unsere verzweifelte Hilflosigkeit gegenüber den Erscheinungen der bildenden Kunst«. Deshalb fordert Ruttmann eine »Malerei mit Zeit«, die er mittels des Films realisieren will: »Eine Kunst für das Auge, die sich von der Malerei dadurch unterscheidet, dass sie sich zeitlich abspielt (wie Musik). Es wird sich deshalb ein ganz neuer, bisher nur latent vorhandener Typus von Künstler herausstellen, der etwa in der Mitte von Malerei und Musik steht. Für diese neue Kunst […]kann auf alle Fälle mit einem erheblich breiteren Publikum gerechnet werden, als es die Malerei hat«. [15] Trotz immenser technischer Schwierigkeiten und ohne jede offizielle Unterstützung erreicht Ruttmann nach Jahren intensiver Arbeit sein Ziel: 1921 hat sein erster Film, »Opus 1«, offiziell Premiere. Den Film begleitet das eigens dafür komponierten Streichquartett von Max Butting, und auch für die bis 1925 folgenden drei Opus-Filme gibt es je ein entsprechendes Musikstück. Dies unterscheidet Ruttmanns Ansatz von den späteren Visualisierungen schon vorhandener Musik, mit denen beispielsweise Oskar Fischinger berühmt wird, die jedoch immer einen illustrativen Charakter behalten.

Die malerischen, abstrakten Bilder von Ruttmanns Filmen entstehen mit einer von ihm selbst entwickelten Apparatur, auf die er sogar ein Patent erhält. Sein Weg lässt sich also so zusammenfassen: Die Beschleunigung der modernen Wahrnehmung verlangt nach einer neuen Kunst, für diese fehlt aber noch die technische Lösung. Erst als Erfinder eines Apparats wird Ruttmann auch zum Pionier des so genannten »absoluten Films«. Die pragmatische Maschine Filmkamera muss mit einer neuen, ästhetischen Maschine kombiniert werden, um

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Akustische Kulisse einer Schlacht im Rundfunksaal (unbekannt), 1924Tri-Ergon Lichtton-Aufzeichnung (unbekannt), 1922Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (Ruttmann, Walter), 1927

den Film zu sich selbst zu bringen, zu seiner eigenen absoluten Bildhaftigkeit, die nur noch aus Farben und Formen besteht, die keine Abbilder der Außenwelt mehr braucht. Heute im Zeitalter der Computeranimation und Videoclips scheint dieser Schritt ebenso selbstverständlich wie er damals revolutionär und irritierend war. Ohne voneinander zu wissen, arbeiten mehrere Künstler an verwandten Ideen, und 1925 findet die viel beachtete Matinee »Der absolute Film« in Berlin statt. Auch Werbung und Spielfilm greifen diese Ideen auf und integrieren absolute Elemente. Dennoch entwickeln sich diese abstrakten Filme nicht zur einer wirklichen Massenkunst und Ruttmann distanziert sich sogar bald von der »absoluten Mode«. Zu dieser Zeit kündigt sich ein neues Massenmedium an, das dem Kino bald ebenbürtig werden wird: das Radio. Es steht in einer paradoxen Parallele zum Film: Dem Stummfilm fehlt der Ton – dem Radio das Bild. Deshalb ringt man im Radio auch um eine neue Kunstform, welche dieser Spezifik des Mediums gerecht wird: das Hörspiel. Zunächst versucht man, klassische Theaterstoffe mit aufwändigen akustischen ›Kulissen‹ auszustaffieren: Säbelrasseln,Türenknallen, Marschrhythmus auf knirschendem Kies, all das musste pünktlich passend im Studio erzeugt werden, denn alle Sendung finden live statt, vor einem einzigen Mikrofon im Sendesaal (siehe »Akustische Kulisse einer Schlacht im Rundfunksaal«, 1924). Erst mit dem Tonfilm steht ab Ende der 1920er Jahre ein Speichermedium zur Verfügung, dass eine perfekte Synthese von Bild und Ton ermöglicht. Die Apparate zur Tri-Ergon Lichtton-Aufzeichnung füllen noch eine ganzen Lastwagen, heute passt so etwas in jede Hosentasche. Zum ersten Mal wird es möglich, Klänge aus dem ›echten Leben‹ aufzunehmen und durch Schnitt und Montage zu verarbeiten. Diese Technik wird erstmals 1930 für ein Hörspiel eingesetzt, sein Autor: Walter Ruttmann. Doch bevor wir zu diesem Hörspiel kommen, müssen wir einen Blick auf Ruttmanns Werk nach dem »absoluten Film« werfen. Er dreht 1927 mit »Berlin. Die Sinfonie der Großstadt« einen Film ohne Schauspieler, ohne Drehbuch und ohne Story, der nur aus dem Ablauf eines Tages in der Metropole besteht und in dem er mit »Auswahl, Gruppierung und Montage« von »natürlichem Material« arbeitet. Dieses »Beschleichen der Wirklichkeit«

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Weekend (Ruttmann, Walter), 1930Weekend Remix (Walter Ruttmann u.a.), 1998

verwendet Ruttmann nun auch 1930 in seinem ersten und einzigen Hörspiel. Der viel sagende Titel »Weekend« ist sozusagen schon die Inhaltsangabe: Nur mit vor Ort aufgenommenen Geräuschen wird der Ablauf eines Wochenendes von Samstag abend bis Montag morgen wiedergegeben, komprimiert auf 11 Minuten. Es ist ein akustischer Film ohne Bilder, in künstlerischer ebenso wie in technischer Hinsicht. Ruttmann selbst spricht von einer »photographischen Hörkunst«. [16] Ruttmann setzt die Montage assoziativ ein, zum Beispiel im fast wörtlich zu nehmenden ›Ausklang‹ des Wochenendes: erst das Klingen der Gläser beim Prost, dann die Glocken der Tiere, schließlich die Glocken der Kirche, abends und nachts, morgens der klingelnde Wecker und der noch schleppende Neubeginn des Arbeitsrhythmus. Die Klangmontage von »Weekend« nimmt sowohl die Musique concrète (Pierre Schaeffer) in den 1950er Jahren vorweg als auch das Sampling der heutigen Technomusik. Dieses Zukunftspotenzial demonstriert eine 1998 als Hommage entstandene CD »Weekend Remix«, die verschiedene Remixe des alten Klangmaterials von DJs und Elektronik-Musikern enthält,unter anderem von Lippok Robert und seiner Band To Rococo Rot (siehe den Text von Lippock). [17] Damit steht Ruttmann am zentralen Schnittpunkt von drei Entwicklungslinien: der künstlerischen Suche nach einer visuellen Musik, der medientechnischen Verkoppelung von Bild und Ton und schließlich der Übertragung von Entwicklungen der Avantgarde in die Mainstreamkultur (siehe den Text »Montage / Sampling / Morphing« von Diedrich Diederichsen).

1930 lautet Ruttmanns Motto: »Alles Hörbare der ganzen Welt wird Material.« [18] Sieben Jahre später prognostiziert John Cage in seinem »Credo« zur Zukunft der Musik: »Ich glaube, die Verwendung von Geräuschen in der Musik wird fortgesetzt und gesteigert, bis wir eine mit elektrischen Instrumenten produzierte Musik erreichen, die für musikalische Zwecke jeden und alle hörbaren Klänge verfügbar machen wird. Fotoelektrik, Film und mechanische Mittel zur synthetischen Erzeugung von Musik werden eingesetzt werden.« [19] Ruttmanns »Weekend« ist das Finale der visuellen Musik der 1920er, Cage hingegen legt die Grundlagen für die intermediale Kunst der 1950/1960er Jahre. Ruttmann und Cage haben somit

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Williams Mix (Cage, John), 1952

künstlerisch wenig gemein, außer dass sie vom Maler bzw. Musiker zu Medienkünstlern werden, weil sie einer technischen und ästhetischen Entwicklungslogik folgen und deren Breitenwirkung voraussehen. Doch erst über ein halbes Jahrhundert später werden diese Avantgarde-Ideen Teil der Mainstreamkultur: »Techno verschiebt die Grenze zwischen Lärm und Musik ins unendliche Nichts der Nicht-mehr-Wahrnehmbarkeit«, schreibt der Poptheoretiker Ulf Poschardt 1995. [20]

Elektronische Medienkunst der 1950/1960er Jahre

Die Avantgarde der 1920er Jahre bleibt zunächst überraschend folgenlos, ja gerät sogar in Vergessenheit, wie sich am Beispiel Ruttmanns besonders drastisch zeigt. [21] Erst in den 1950/1960er Jahren wird zunächst in der Neuen Musik, dann auch in der bildenden Kunst daran angeknüpft. Die Möglichkeit dafür eröffnen die elektronischen audiovisuellen Medien. Während am Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem Impulse aus der bildenden Kunst in die Musik übertragen wurden, übernimmt nun zeitweise die Musik die Führungsrolle in dieser Wechselwirkung. [22]

Entscheidend dafür ist einerseits die radikale Infragestellung des musikalischen Werkbegriffs und andererseits der technische Vorsprung der Audiomedien. Das Tonband vereinfacht die beim Tonfilm sehr aufwändige und teure Produktion und erlaubt eine noch viel komplexere Montage. Nun können Musiker erstmals ohne großes Budget ihre eigenen Tonexperimente mit einem Speichermedium machen. John Cage entwickelt für seine erste Tonbandkomposition »Williams Mix« (1952) eine grafische Partitur. Mit der klassischen Notenschrift lässt sich solche Komplexität nicht mehr bewältigen, stattdessen braucht Cage ein Bild zur Komposition von Ton. Acht Tonbandspuren laufen parallel, jede dieser Spuren besteht aus kurzen Soundstücken, deren Abfolge und Form mit Zufallsprinzipien bestimmt wurden. Cage verwendet 600 verschiedene Geräusche als Grundmaterial, die handgezeichnete Partitur umfasst 192 Seiten. Das Schneiden und Kleben von tausenden Tonbandschnippsel war ebenfalls mühevolle Handarbeit und dauerte trotz der Mithilfe von Freunden fast ein Jahr – für nur vier Minuten Musik. Mit heutiger Digitaltechnik wäre es sehr viel einfacher,

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Random Access Music; Exposition of Music – Electronic Television (Paik, Nam June), 1963Exposition of Music – Electronic Television (Paik, Nam June), 1963

eine Montage mit vergleichbarer Komplexität zu produzieren. Die Software stellt den Sound schon grafisch dar, sie erlaubt so direkte Interaktion mit dem Klang. Das heißt, die Trennung zwischen einer Partitur auf Papier und ihrer mühseligen Umsetzung auf Tonband fällt weg, die digitale Partitur ist zugleich das Instrument für ihre Realisation.

Einen ersten Schritt zu einer solchen interaktiven Komposition in Echtzeit macht Nam June Paik zehn Jahre nach Cage, ebenfalls noch ganz analog, mit dem guten alten Tonband unter dem Titel »Random Access«. Dazu greift er in das Gerät ein, löst den Tonkopf heraus und gibt ihn dem Zuhörer in die Hand. Erst wenn der Zuhörer aktiv wird und die aufgeklebten Tonbänder abfährt, gibt es etwas zu hören. In der ersten Version von 1963 sind die Tonbänder wie ein Stadtplan direkt auf die Wand geklebt. Statt einer fertigen Komposition schafft Paik also eine interaktive Installation, statt nur die Software des Tonbands zu bearbeiten, verändert er die Hardware des Geräts – aus dem Rezeptionsmedium wird ein neues Produktionsinstrument. In der gleichen Ausstellung wendet Paik 1963 dieses Prinzip des »Random Access«auch auf Schallplatten an. Schon 30 Jahre vor der DJ-Kultur macht Paik die Vinylplatte zum Musikinstrument. Ein weiterer Beleg für Avantgarde als Antizipation des Mainstream: Der Plattenspieler als pragmatische Maschine für die korrekte Wiedergabe von Musik wird zweckentfremdet zu einer ästhetischen Maschine als kreatives Instrument und nur deshalb werden heute noch Vinyschallplatten nach dem Prinzip von Edisons Phonograph hergestellt. Der Titel dieser Ausstellung von 1963 ist viel sagend: »Exposition of Music - Electronic Television« steht für den Übergang von Paik, dem Komponisten, der für ein Musikstudium nach Deutschland kommt, zu Paik, dem Vater der Videokunst. Denn hier stellt er erstmals seine Experimente mit Fernsehgeräten vor, in denen er seine Erfahrungen mit elektronischer Musik auf das elektronische Bild überträgt. [23] Die Vorbereitungen hierzu waren (so wie bei Cages Tonband-Montage) lange und mühselig: Ein Jahr lang hat er an den gebraucht gekauften TV-Kisten herumgebastelt, um aus dem passiven Konsumgerät ein kreatives »Participation TV« zu machen.

Zu dieser Zeit gibt es noch keine Videogeräte, Paik

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TV mit Mikro (Paik, Nam June)Kuba-TV (Paik, Nam June), 1963Video Synthesizer und ‘TV-Cello’ Collectibles (Paik, Nam June; Yalkut, Jud), 1965

kann also nur mit Manipulationen des aktuellen, laufenden TV-Programms arbeiten. Und auch das ist noch sehr sparsam: In Deutschland gibt es 1963 nur einen einzigen TV-Kanal, und der sendet nur abends zwei Stunden von halb acht bis halb zehn.

Jeder der zwölf Fernseher in der Ausstellung ist auf andere Weise modifiziert, zwei davon spielen mit der Bild-Ton-Relation: Wenn man Geräusche in ein Mikrofon macht, werden diese in schnell schwingende Muster übersetzt (siehe TV mit Mikro). Oder ein Tonband ist an die Bildröhre angeschlossen, so dass man auf der Mattscheibe die von der Musik erzeugten Muster sehen kann, ohne sie zu hören (»Kuba-TV«). Hier wird der jahrhundertealte Wunschtraum der Synästhesie durch einen simplen technischen Kurzschluss realisiert. Doch bei aller Ironie ist Paiks tieferes Anliegen eine Übertragung von Cages musikalischer Arbeit mit Zufallsfaktoren auf die Bildkünste, zu deren Begründung er bis auf die physikalischen Eigenschaften des Elektrons zurückgeht: »INDETERMINISMUS und VARIABILITÄT sind die extrem UNTERENTWICKELTEN Parameter in der optischen Kunst, obwohl dies das zentrale Phänomen der Musik während der letztenzehn Jahre gewesen ist.« [24] Ausdrücklich fordert Paik somit die Übertragung von kompositorischen Prinzipien der Musik auf die Bildkünste. Dem entspricht eine industriell-technische Entwicklung vom Ton zum Bild, wie sie schon bei Edison auftrat, die aus dem Tonband das Videoband werden lässt.

Sobald die ersten Geräte auf den Markt kommen, stürzt Paik sich auf die Videotechnik und verkündet 1965 programmatisch: »Es ist eine historische Notwendigkeit, falls es eine historische Notwendigkeit in der Geschichte gibt, das eine neue Dekade des elektronischen Fernsehens der vergangenen Dekade der elektronischen Musik folgt.« [25] Doch die von der Industrie gelieferten Videogeräte reichen Paik nicht. 1970 beginnt er zusammen mit dem Techniker Shuya Abe und der Unterstützung eines TV-Senders, einen eigenen »Videosynthesizer« zu bauen. Mit ihm kann er nun das elektronische Bild manipulieren, um es aus der TV-Ästhetik zu befreien und zu einem frei formbaren künstlerischen Material zu machen. So wie Walter Ruttmann ein halbes Jahrhundert zuvor seine Filmapparatur baute, um mit dem Film so wie mit Pinsel und Farbe zu arbeiten, verkündet nun Paik: »Eines

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Video Commune; Beatles from beginning to end - An experiment for television (Paik, Nam June; Jud Yalkut), 1965Vidium (Hearn, Bill), 1969

Tages werden Künstler mit Kondensatoren, Widerständen & Halbleitern arbeiten so, wie sie heute mit Pinseln, Violine & Abfall arbeiten.« [26] Der Videosynthesizer ist wie der in der Musik übliche Audiosynthesizer zunächst für den Live-Einsatz gedacht, er ist laut Paik »in Realzeit zu spielen – wie ein Klavier. Vom rein künstlerischen Standpunkt ist das höchst interessant – eine wirklich neue Sache, die nie zuvor existiert hat. Man spielt einfach und sieht dann den Effekt«. [27]

Der Videosynthesizer kommt erstmals in der Live-TV-Sendung »Videocommune« 1970 auf WGBH Boston zum Einsatz. Vier Stunden lang improvisieren Paik und das Team des Senders mit dem Synthesizer, wozu sogar Passanten von der Straße eingeladen werden, spontan an der Gestaltung einer Fernsehsendung mitzumachen. Die in der Musik übliche, gemeinsame Improvisation wird durch diese Technik auch für das Bild möglich, es entsteht ein für die Bildkünste neues Modell einer kollektiven Kreativität. Den Soundtrack zu den vier Stunden »Videocommune« liefert das Gesamtwerk der Beatles. Damit nimmt Paik schon viele Elemente der Musicclips vorweg.

Paik ist nicht der einzige, der sich zu dieser Zeit mit dem Bau von Videosynthesizern beschäftigt. Es gibt zahlreiche Bastler, Künstler und Musiker die von der elektronischen Synästhesie fasziniert sind. [28] Meist werden dabei zweckentfremdete Audiosynthesizern zur Bildverarbeitung eingesetzt so wie in Bill Hearns »Vidium« von 1969. Schon vor der Digitalisierung besteht also in den elektronischen Medientechniken eine enge, direkte Wechselwirkung zwischen Bild und Ton, denn beides sind nur noch elektrische Signale. Seit Beginn der elektronischen Ära ist dabei die Tontechnik der Bildtechnik fast immer voraus. Der Grund ist einfach: Ein Tonsignal braucht sehr viel weniger Information als ein Bildsignal. Darum ist das Radio älter als das Fernsehen, das Tonband älter als der Videorekorder, die Audio-CD älter als die DVD. Dieser technische Vorsprung hat bis heute eine direkte Auswirkung auf die Kunst.

Avantgarde und Mainstream seit den 1990er Jahren

Seit den 1990er Jahren treten visuelle und akustische Kultur ebenso wie ihre Medien in eine enge Wechselbeziehung

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(siehe den Text »Ton-Bild-Relationen. Musik als intermediale Kunstform« von Golo Foellmer/Julia Gerlach). Die Voraussetzung dafür liefert die eingangs beschriebene Synthese von Bild- und Tontechnik im Digitalen, welche auch den Zeitvorsprung der Avantgarde zum Mainstream immer kürzer werden lässt. Sowohl in der E- wie in der U-Kultur hat die Musik schon lange vor der Bildkunst die vollen digitalen Möglichkeiten ausgeschöpft. Deshalb entsteht die elektronische Neue Musik ein Jahrzehnt vor der Videokunst und deshalb gibt es den DJ schon Jahre vor dem VJ. Man kann im Rückblick auf die Zeit ab 1950 behaupten: Sound ist die technische Avantgarde des Bildes. Andererseits erweist sich der Kontext der bildenden Kunst als permissiver und offener für die Prozessualisierung und Partizipation des ›offenen Kunstwerks‹ von Fluxus und Happening sowie ihre Fortführung in der Medienkunst. Deshalb wird die Kategorie Medienkunst heute vor allem als Teil der Kunstgeschichte und weniger der Musikgeschichte verhandelt.

Der neue Typus eines Künstlers zwischen Musik und Malerei, auf den Ruttmann schon 1920 wartet,scheitert heute nicht mehr an den technischen Möglichkeiten – diese sind in digitalem Überfluss vorhanden. Doch die Künstler sind nie zufrieden mit dem, was die Industrie ihnen an Hard- und Software bietet. Die DJPioniere und Klangkünstler bauen ebenso ihre eigenen Tools und schreiben ihre eigenen Programme wie die VJ-Pioniere und manche bildenden Medienkünstler. In der künstlerischen Praxis findet oft ein visuell-akustisches Teamwork statt, das aber nicht immer frei von Hierarchieverhältnissen ist (siehe Text von Stephen Vitiello). Im Pop-Kontext ist die Musik dominant: die gängigen Videoclips illustrieren den Rhythmus und die Storyline der Musik. Im Club ist der DJ der Chef, der VJ versucht, dem Beat der Musik zu folgen und sich auf den Stil der Stücke einzustellen. Umgekehrt steht im Kontext der bildenden Kunst das Visuelle im Vordergrund – wer den Sound zu einem Medienkunstwerk gemacht hat, steht meist nur in den Credits. Ebenso bleiben die Verwertungssysteme von Musik und bildender Kunst bis heute völlig unterschiedlich: Für Musik zählt die Masse, seien es Besucher im Konzert oder verkaufte Platten. Die bildende Kunst hingegen verdient an Exklusivität, am Verkauf

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United States, Part 1-4 (Anderson, Laurie), 1983Modell 5 (Granular Synthesis), 1994Pol (Granular Synthesis), 1998

von Originalwerken in kleiner Zahl zu hohem Preis. Doch seit den 1980er Jahren gibt es mehr und mehr Künstler die gleichermaßen mit Bild und Ton arbeiten. Zu den Pionieren gehört Laurie Anderson spätestens seit ihrer Multimediaperformances »United States, Part 1–4« (1983). Für ihre Stücke setzt sie Live-Elektronik ein und erfindet neue visuelle Musikinstrumente, wie beispielsweise die Video-Geige und die Tonband-Geige. Ihr gelingt damit ein Brückenschlag von der E- zur U-Kultur, sie tritt im Museum auf und kommt mit ihrem Song »Oh Superman« 1982 sogar in die Hitparade. Seit Mitte der 1990er Jahre lässt sich eine wachsende Zahl von Künstlern kaum noch unter den klassischen Gattungen subsumieren. Während die Kunstszene die Clubkultur entdeckt und unter dem Schlagwort Crossculture manchmal recht oberflächlich als neue Inspirationsquelle verwertet, arbeitet eine mit dem Computer groß gewordene Generation von Künstlern an den Tiefenschichten der Bild-Ton- Verbindung. Einige Beispiele dafür seien abschließend genannt, an denen sich auch verschiedene Strategien zur Verbindung der Verwertungssysteme von Kunst undMusik ablesen lassen.

Granular Synthesis besteht seit 1991 aus Ulf Langheinrich und Kurt Hentschläger, beide ursprünglich bildende Künstler (siehe den Text von Ulf Langheinrich). Ihre Zusammenarbeit kennt keine Rollenaufteilung, sie sind für Bild und Ton gleichermaßen zuständig. Ihre technisch sehr aufwändigen Live- Aufführungen sind optisch ebenso wie akustisch intensiv, ja überwältigend. Stücke wie »Modell 5« (1994–1996) oder »Pol« (1998–2000) werden in verschiedenen, ortsspezifischen Versionen inszeniert. Der Name ist Programm: Ohne dass die ursprünglichen Bilder und Töne selbst manipuliert würden, entstehen durch die so genannte ›granulare Synthese‹ aus kleinsten Bild-Ton-Partikeln völlig neue Seh- und Hörwelten. Ebenso bedienen sie die unterschiedlichen ökonomischen Systeme von Musik und bildender Kunst: Die Live-Auftritte von Granular Synthesis werden von einer professionellen Konzertagentur gemanagt, ihre Videos und Installationen hingegen von Galerien für den Kunstmarkt vertrieben.

Carsten Nicolai (aka noto) hat als Maler begonnen, heute ist er mindestens genauso bekannt als

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Snownoise (Nicolai, Carsten), 2001aka noto, crystals/reworked (Nicolai, Carsten), 2003242.pilots live in Bern (242pilots), 2002

elektronischer Musiker unter dem Pseudonym noto. Auch ihm gelingt es, die verschiedenen Verwertungssysteme von Kunst und Musik souverän zu kombinieren: Er stellt Bilder und Klanginstallationen in Galerien und Museen aus, er betreibt das Label raster noton für elektronische Musik und er tritt als Musiker in Konzerten mit Live-Elektronik und eigenen Visuals auf. Dabei führt er im Unterschied zu Granular Synthesis jedoch eine Art Doppelleben, da er je nach Publikum teils nur als Musiker oder Künstler gesehen wird. Die breitenwirksame Vertriebsstruktur von Musik ist für ihn deutlich zeitgemäßer als die auf das Unikat angewiesene Kunst. [29] Ästhetisch interessiert Nicolai die Verwandtschaft optischer und akustischer Phänomene wie Phasenverschiebungen, Rauschen und Interferenzen, für deren genaue Untersuchung er auch Naturwissenschaft und Wahrnehmungstheorie heranzieht. Wie gesagt sind Licht und Schall zwar physikalisch getrennte Phänomene, die nur in der menschlichen Wahrnehmung zusammenkommen. Doch Nicolai findet modellhafte Prozesse für ihre Analogisierung in den Phänomenen selbst: In der Installation»Snownoise« von 2001 wird das Wachstum von Schneekristallen durch die Umgebungsgeräusche beeinflusst. Vergleichbar werden generative, sich selbst organisierende Muster und Loops für Bild und Ton auch in Live-Performances wie »Crystals/reworked« von 2003 umgesetzt.

Die Gruppe 242.pilots (HC Gilje aus Norwegen, Lukasz Lysakowski aus Polen und Kurt Ralske aus den USA) machen Video-Live-Improvisationen, manchmal als Trio, manchmal als Solo, teils mit eingeladenen Musiker, teils ohne. Bei Auftritten wie »242.pilots live in Bern« oder »242.pilots live in Bruxelles« [EL](2002) entstehen wie in einer Jamsession kollektive visuelle Improvisation. Manche VJs arbeiten ebenfalls in Crews, doch 242.pilots liefern keine bloße Illustration zur Musik von DJs, sondern im Zusammenspiel von Musik und Video reagieren beide Seiten aufeinander. Es sei an vergleichbare Unterschiede in den 1920er Jahren erinnert, als Ruttmanns Filme immer von einer speziell dafür entstandenen Komposition begleitet werden, während Oskar Fischinger sich auf die Visualisierung vorhandener Musik beschränkt.

Diese drei Beispiele zeigen die Bedeutung von

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Oval Process Public Beta (Popp, Markus), 2000Williams Mix (Cage, John), 1952

künstlerischem und technischem Teamwork. Ohne eine klassische Rollenaufteilung zwischen Bild und Ton oder zwischen Werk und Ausführung mischen sich in diesen Teams die Kompetenzen. Sie schaffen dabei eine Arbeit, deren wechselndes Format sich dem je verschiedenen institutionellen und ökonomischen Kontext von Musik und Kunst adaptiert. Die technischen und künstlerischen Innovationen bedingen sich dabei wechselseitig. Zwei weitere Beispiele zeigen, wie weit die Grenzen vorhandener Techniken und Formate dabei überschritten werden.

Als Mitglied der Gruppe Oval hat Markus Popp Mitte der 1990er Jahre elektronische Musik produziert zu der seine Kollegen Visuals beisteuerten. Mittlerweile besteht Oval nur noch aus Popp (siehe den Text »Meine Musik ist ein Modell für Musik« von Markus Popp). Mit »Ovalprocess« stellt er ab 2000 einen Typ von künstlerischer Produktion vor, der zwischen allen Genres steht: »Ovalprocess« ist eine Software, eine darauf basierende interaktive Installation und eine unter dem gleichen Titel erfolgreich verkaufte Musik-CD. Es wäre jedoch falsch, dies nur als clevere dreifache Vermarktungsstrategie zu verstehen. Popperklärt, dass er sich mit der Veröffentlichung dieser Autorenumgebung eigentlich selbst überflüssig machen will, da nun jeder selbst mittels der Software seine eigene, »userzentrierte« Musik machen kann. Trotzdem ist die »Ovalprocess«-Software aber kein neues Tool, sondern nur ein Demo seiner eigenen Arbeitsweise, die sich gerade der allzu einfachen, in den Musiktools vorgefertigten Ästhetik verweigert und auf langwierige digitale Handarbeit setzt. [30] In mancher Hinsicht erinnert dies an John Cage mühevolle manuelle Herstellung der Tonbandmontage von »Williams Mix« ein halbes Jahrhundert zuvor und ebenso an das Ideal einer Musik ohne Musiker, die sich aus der Anwendung von Zufallsprogrammen sozusagen selbst generiert. Popps Software »Ovalprocess« bildet also eine Analogie zu den grafischen Partituren und ebenso wie Cage wird er auf diesem Umweg zum Künstler der in Ausstellungen und Museen gezeigt wird. Doch Popps Intention bleibt strikt musikalisch: Dem zum User gewordenen Hörer sollen die Produktionsbedingungen von elektronischer Musik und der entscheidende Einfluss, den Programme auf den ästhetischen Output haben, offen gelegt werden.

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nebula.m81; Autonomous (Nezvanova, Netochka), 1999

Noch einen Schritt weiter geht Netochka Nezvanova, die nach einer Romanfigur Dostojewskis benannte fiktive Person, oder manche nennen sie auch eine ›Entität‹. Sie tritt nur über das Internet auf, wo sie ihre Softwareprodukte anbietet, aber auch Mailinglisten mit kryptischen Messages überflutet. Ihre Software »Nato« ist derzeit eines der beliebtesten Tools aller VJs für Live-Visuals, denn sie kann beliebige visuelle Objekte direkt an Klänge binden und so einen mit der Musik gekoppelten, aber dennoch frei mischbaren und editierbaren Fluss von Bildern erzeugen. Diese Software ist jedoch nicht wie bei Markus Popp ein halbkünstlerisches Demo, sondern ein professionelles und knallhart kommerzielles Produkt mit hohen Lizenzgebühren, dass außerdem eine Monopolstellung behaupten kann. Außerdem (oder sollte man sagen trotzdem?) erhielt Netochka Nezvanova für Programme wie »Nebula M.81«, die ebenfalls eine direkte Transformation von Bild- und Tondaten erlauben, auch eine ganze Reihe von Preisen in Wettbewerben für Softwarekunst. Diese Ambivalenz ist typisch für die Kunstfigur, die übersetzt »Namenloser Niemand« heißen würde. Damit entziehtsie sich noch viel radikaler als alle bisher genannten Beispiele der Einordnung in Genres und Kategorien, seien es nun Bild und Ton oder Kunst, Technik und Kommerz. Und der Weg von der Avantgarde zum Mainstream dauert nun nicht mehr Jahrzehnte wie noch bei Ruttmann oder Paik, sondern vollzieht sich fast zeitgleich anhand des in beiden Kontexten verwendeten Produkts oder Artfakts (der Begriff Kunstwerk passt schon lange nicht mehr).

Alle fünf aktuellen Beispiele belegen: Nach über hundert Jahren audiovisueller Medienentwicklung wird in manchen Kunstformen (oder sollte man sagen Artefakten?) nicht nur die Grenze zwischen Bild und Ton fließend. Die alte Parallelgeschichte von ästhetischen und pragmatischen Maschinen wird fortgesetzt, doch auch die Grenze zwischen beiden steht in Frage. Wie schon in den 1950/1960er Jahren stehen ebenso der klassische Werkbegriff und die Position des Künstlerautors in Frage. Und obwohl die Verwertungsprinzipien und Institutionen von Musik und Kunst in diesem großen Zeitraum erstaunlich unverändert geblieben sind, entsteht durch die neuen Technologien ein noch nicht genau definierter

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Zwischenraum, der Hoffnung auf eine Alternative zum Kreislauf von Vermarktung, Technikinnovation und kommerzieller Kulturproduktion bietet.

Erinnern wir uns an die Menschen mit einer synästhetischen Veranlagung, die oftmals darunter leiden, dass sie zu jeder Musik immer Farben und Formen sehen, bis sie es lernen diese Fähigkeit zu genießen. Laut den Ergebnissen der Hirnforschung haben wir alle in früher Kindheit noch eine synästhetische Wahrnehmung und lernen erst langsam, Bild von Ton zu trennen. Vielleicht ist die ganze Geschichte der synästhetischen Kunst nur ein Ausdruck der Sehnsucht nach diesem Urzustand, den wir aber nie wieder erreichen können. Immerhin haben wir mit der universellen Maschine des Computers ein Ebenbild für diesen Wunsch geschaffen, an dessen Programmierung wir uns nun die nächsten Hundert Jahre abarbeiten können.

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