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Medien → Kunst / Kunst → Medien.
Vorformen der Medienkunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Dieter Daniels
 

Medien ersetzen Kunst – Kunst reagiert auf Medien

Im Laufe der letzten 150 Jahre besetzen die audiovisuellen Medien (Foto, Film, Radio, TV, Multimedia) stückweise ein Gebiet der menschlichen Wahrnehmung, das zuvorausschließlich den klassischen Künsten und ihren verschiedenen Gattungen (Malerei, Musik, Theater) reserviert war. Die Erfindung der Fotografie im Jahr 1839 und ihre blitzartige, massenhafte Verbreitung, nochmals verstärkt durch neue Drucktechniken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der schnelle Aufstieg des Films zu einer weltweit breitenwirksamen Industrie am Beginn des 20. Jahrhunderts und die fast explosionsartige Dynamik der Entstehung des Radios in den 1920er Jahren – all dies lässt schon erkennen, welche Macht diese Distributions- und Produktionsinstrumente haben. Ab den 1960er Jahren wird dann das Fernsehen zu dem Massenmedium, durch welches dieser Begriff seine Prägung erhält. Erst seit den 1990er Jahren erhält es Konkurrenz durch das Internet und die damit verbundenen Multimediaplattformen.

Jede der audiovisuellen Medientechniken stellt neue ästhetische Fragen. Die gilt in doppelter Hinsicht: Erstens medienimmanent, das heißt, welche Darstellungsformen ermöglicht und erfordert dasMedium (zum Beispiel verschiedene Formen der Montage in Foto, Film und digitalen Bildmedien), zweitens im gesamtkulturellen Kontext, das heißt, welchen Bezug hat es zu bestehenden Medien und Kunstformen. Schon bei der Erfindung der Fotografie wird der Tod der Malerei proklamiert, dies wiederholt sich beim Fernsehen in Bezug auf den Film, dennoch wird bis heute gemalt und gefilmt. Doch die schon etablierten Kunst- und Medienformen reagieren auf die nachfolgenden Entwicklungen: Spätestens seit dem Impressionismus, aber ebenso im Kubismus und Surrealismus, zeigt die Malerei gerade jene physiologischen und psychologischen Aspekte, welche der Fotografie entgehen. Gegenüber der stückhaften und vielstimmigen Informationsmasse des Fernsehens betont das Kino die geschlossene, emotional bindende Geschichte. Und gegen die Perfektion der industriellen Bilder setzen die künstlerischen Videos und Performances die Bruchstellen und Störungen einer neuen Authentizität. Avantgarde und Mainstream stehen also sowohl in medientechnischer wie ästhetischer Hinsicht seit Beginn der Moderne in einer intensiven Wechselbeziehung. Die radikale Konsequenz hieraus lautet: »Alle moderne Kunst ist Medienkunst.«[1]

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Warum verwenden Künstler Medien?

Betrachten wir diese komplexe Wechselwirkung zunächst aus der Perspektive der Künstler. Für sie gibt es zwei entscheidende Gründe für die Verwendung von Medien. Das erste Motiv liegt in einem ebenso tief empfundenen wie klar erkannten Verlust der Breitenwirkung moderner Kunst. Seit der Entstehung der Avantgarde Ende des 19. Jahrhunderts, spätestens am Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Abstraktion und dem Kubismus, verliert die avancierte Kunst die allgemeine Akzeptanz des ästhetischen ›commonsense‹ der zeitgenössischen Bevölkerung. An die Verwendung neuer Techniken wie Film und Funk, die potentiell Massenmedien sind, knüpft sich die Hoffnung, die Avantgarde aus ihrer selbst verursachten Isolation zu führen, um »die Kunst und das Volk wieder miteinander zu versöhnen«, wie Guillaume Apollinaire 1912 am Schluss seines Buches über den Kubismus schreibt.[2]

Diese Hoffnung findet sich in den ersten programmatischen Forderungen zum künstlerischen Medieneinsatz von Film, Radio und Fernsehen, etwa Dziga Vertovs und Walter RuttmannsEntwürfen einer neuen Filmkunst, der Radiotheorie von Bertolt Brecht oder dem Manifest der Futuristen zum Fernsehen (»La Radia« 1933 ). Zum politischen Programm wird die Massenkunst dabei unter solch ganz entgegengesetzten Ideologien wie der russischen Revolution und dem deutschen und italienischen Faschismus. Auch Walter Benjamins epochaler Essay »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« von 1936 hat die soziale und politische Wirkungslosigkeit der Avantgarde zum Thema und entwirft erstmals eine umfassende theoretische Grundlage für einen durch die Medien veränderten Kunstbegriff: Mittels technischer Medien soll die Kunst die Begrenztheit des manuell hergestellten Originals überwinden, ein neues Publikum erreichen und gesellschaftlich mobilisieren. Diese Entwürfe haben, vermittelt über ihre Erneuerung in den medientheoretischen Ansätzen der 1960er Jahre von Marshall McLuhan bis Hans Magnus Enzensberger, großen Einfluss auf die Entwicklung der Medienkunst gehabt.[3] Sie bilden die Leitmotive für die Pionierzeit der Videokunst,des Experimentalfilms und der Audio Art.

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_readme (Bunting, Heath)

Das zweite zentrale Motiv für die künstlerische Arbeit mit audiovisuellen Medien liegt in ihrem ästhetischen Potential, bis dahin ungesehene und ungehörte Bild- und Klangerlebnisse zu gestalten, also Kunstformen jenseits aller bekannten Gattungen. So entwirft Walter Ruttmann 1919 »eine Kunst für das Auge, die sich von der Malerei dadurch unterscheidet, dass sie sich zeitlich abspielt (wie Musik). […] Es wird sich deshalb ein ganz neuer, bisher nur latent vorhandener Typus von Künstler herausstellen, der etwa in der Mitte von Malerei und Musik steht«. Und für diese neue Kunst »kann auf alle Fälle mit einem erheblich breiteren Publikum gerechnet werden, als es die Malerei hat«.[4] Diese Idee nimmt Form an in den absoluten Filmen der 1920er Jahre von Ruttmann, Viking Eggeling, Hans Richter und anderen und ihr korrespondiert der Entwurf einer ebensolchen »absoluten Radiokunst« von Kurt Weill 1925, für die durch »ein Heer neuer, unerhörter Geräusche, die das Mikrofon auf künstlichem Wege erzeugen könnte«, so etwas wie »ein absolutes, über der Erde schwebendes, seelenhaftes Kunstwerk« möglich werden soll.[5]

Diese neuen Medienästhetiken werden dabei von Beginn an als Reaktion auf die Technisierung und mediale Beschleunigung der alltäglichen Wahrnehmungkonzipiert.[6] Auch dieses zweite Motiv findet bis heute seine Fortführung in der Analyse und Dekonstruktion von Massemedien durch Künstler. Die Beispiele reichen von William Burroughs literarischem Cut-up über Nam June Paiks Remix von TV-Bildern zu Dara Birnbaums systematischen Analysen der TV-Semiotik bis zur Darstellung der subtilen Kommerzialisierung der Sprache durch das Internet in Heath Buntings Netzprojekt »_readme«.[7]

Vorläufer der Medienkunst

Manifeste und Utopien

Schon vor Beginn der künstlerischen Medienarbeit werden ihre Motive und möglichen Ziele in Manifesten und utopischen Entwürfen formuliert, die zum Teil weit über den Stand der verfügbaren Technik hinausreichen. Dabei antizipieren diese Thesen schon in vieler Hinsicht die seit den 1960er Jahren einsetzende breite künstlerische Praxis der Medienkunst. Diese in »Medien Kunst Netz« online dokumentierten Textauszüge können auch als erste Formulierung der Themenschwerpunkte gelesen werden, die sich in der Gliederung der weiteren Kapitel dieses Überblicks zur Medienkunst niederschlagen.

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Finnegans Wake (Joyce, James), 1923Intonarumori (Russolo, Luigi), 1914

Im Einzelnen lassen sich dabei als Vorläufer zu einigen der Kapitel im vorliegenden Band ausmachen:

* Luigi Russolo, »Die Geräuschkunst«, 1913, vgl. das Kapitel »Audio Art«. * Walter Ruttmann, »Malerei mit Zeit«, circa 1919/20, vgl. das Kapitel »Raum Zeit Technikkonstruktionen«. * Bertolt Brecht, »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, 1930, vgl. zur Publikumspartizipation die Kapitel »Interaktion, Partizipation, Vernetzung« und »Audio Art«. * Dziga Vertov, »Kinoprawda und Radioprawda«, 1925, vgl. zum Aspekt der Massenwirkung das Kapitel »Fernsehen – Kunst oder Antikunst?« und zum Aspekt der Globalisierung das Kapitel »Soziale Technologien«. * F.T.P. Marinetti und Pino Masata, »La Radia«, 1933, vgl. zum Aspekt der Massenwirkung das Kapitel »Fernsehen – Kunst oder Antikunst?«. * Velimir Chlebnikov, »Das Radio der Zukunft«, 1921, vgl. zur Telekommunikation das Kapitel »Interaktion, Partizipation, Vernetzung«. * László Moholy-Nagy, »Das simultane oder Polykino«, 1927, vgl. das Kapitel »Immersion und Interaktion«. * James Joyce, »Finnegans Wake«, 1938, vgl. das Kapitel »Virtuelle Narrationen«.

Von der Utopie zur Praxis

Diese Manifeste und Utopien führen schon in den 1920er Jahren zu konkreten technischen Experimenten und ersten Werken, die teils nur durch großen persönlichen Einsatz der Künstler möglich werden. Die Fragen der Ästhetik und der Machbarkeit sind dabei auf das Engste verknüpft. Den Pionieren der ersten Stunde stehen noch keine ihren Vorstellungen adäquaten, industriellen Geräte zur Verfügung. Sie müssen zu Erfindern und Bastlern werden, um ihre Utopien seh- und hörbar zu machen. Russolo baut seine »Intonarumori« selbst, Vertov müht sich vergeblich an Klangmontagen mittels Grammofonplatten ab, ehe er zur Filmmontage findet, Ruttmann baut einen Filmaufnahmeapparat und lässt ihn sogar patentieren. Im Umfeld des Bauhaus entstehen dann Mitte der 1920er Jahre die Konzepte für eine Zusammenarbeit von Künstler und Techniker mit Unterstützung durch die Industrie und möglichen anwendungsbezogenen Ergebnissen. Die ersten Lichtkunst-Demonstrationen von Ludwig Hirschfeld-Mack und Kurt Schwerdtfeger sind Anfang der 1920er

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Licht-Raum-Modulator (Moholy-Nagy, László), 1930

Jahre noch in den eigenen Werkstätten des Bauhaus entstanden und ihre primitiven, aber effektvollen Mechanismen werden durch Studenten von Hand bedient. Hingegen ist der 1930 vollendete »Licht-Raum-Modulator« von László Moholy-Nagy schon ein von Elektromotoren gesteuerter Apparat, dessen Ingenieursperfektion jedoch nur ästhetischen Zwecken dient. Die Übertragung solcher raumgreifenden Lichtprojektionen auf ein »simultanes Polykino«, das schon die immersiven Kunstformen der virtuellen Realität vorweg nehmen würde, bleiben jedoch ein unrealisiertes Projekt.[8]

Von den 1920er zu den 1960er Jahren

Diese Entwicklung der Vorformen heutiger Medienkunst wird durch den 2. Weltkrieg radikal unterbrochen und findet erst in den 1960er Jahren eine Fortführung. Dabei gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den Utopien der 1920er Jahre und der Praxis nach dem Krieg: In den 1920er Jahren werden Film und Radio noch insgesamt als potentielle Kunstformen gesehen, so als seien sie eine Fortsetzung der Kunstgeschichte mit anderen Mitteln.[9] In den 1960erJahren hingegen breitet sich Resignation gegenüberdem aus, was nun ›die Massenmedien‹ heißt und als verlorenes Terrain für die Kultur gilt. Einzelne Künstler arbeiten zwar an Alternativmodellen, um zumindest symbolisch die Medien ein Stück weit zurückzuerobern, aber ohne das kommerziell und politisch geprägte Mediensystem insgesamt ändern zu können. Die These »Alle moderne Kunst ist Medienkunst« erhält somit ab den 1960er Jahren ihre radikale Zuspitzung: Alle Medienkunst ist Anti-Medienkunst.

Politisierung und Propaganda der 1930er Jahre

Dieser Umbruch der Haltung lässt sich bis in die 1930er Jahre zurückverfolgen, als die zunehmende politische Instrumentalisierung der Medien auch für Künstler zum Thema wird. Bertolt Brecht fordert schon 1932 betreffs des Radios: »Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln.«[10] Walter Benjamin setzt seine Hoffnung auf eine neue, politische Funktion der Kunst vor allem in den Film: »Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur

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Kunst. Aus dem rückständigsten, zum Beispiel einem Picasso gegenüber, schlägt es in das fortschrittlichste, zum Beispiel angesichts eines Chaplin, um.«[11] Diese Entwürfe zu einer revolutionären gesellschaftlichen Rolle der Medienunterschätzen allerdings die starken wirtschaftlichen und direkten politischen Zwänge, unter denen sich die Entwicklung der neuen Techniken vollzieht. Die Hoffnung auf eine emanzipatorische Funktion der Medien wird bald darauf durch ihren Einsatz als Propagandamittel des Faschismus und des Stalinismus in Deutschland, Italien und der UdSSR widerlegt. Dabei stellen sich auch Künstler der Pionierzeit wie Ruttmann, Vertov, Eisenstein und die italienischen Futuristen in den Dienst der Politpropaganda. Doch auch die in die USA emigrierten Pioniere der 1920er Jahre haben dort durchweg wenig Möglichkeit zur Fortsetzung ihrer experimentellen Arbeit, sondern stoßen, so wie etwa Brecht oder Fischinger, auf eine ebenso radikale Kommerzialisierung aller Medienformate.

Ideologisierung der Utopie

Der von Walter Benjamin konstatierten Ästhetisierung der Politik durch den Faschismus entspricht eine Ideologisierung der künstlerischen Utopien, wie sie an den frühesten künstlerischen Ideen zum Fernsehen ablesbar ist, das damals technisch noch im Experimentierstadium steht. Für Vertov sind Film und Radio nur Zwischenstufen zu einer neuen Kunstform, dem »Radioauge«. Schon 1925 antizipiert er damit das Fernsehen: »In kürzester Zeit wird der Mensch optische und akustische Phänomene, die von einer Funkfilmkamera aufgenommen sind, in die ganze Welt senden können.« Die Herrschaft der Medienindustrie über den Film nennt er ein warnendes Exempel dafür, diese neue Technik von Beginn an in den Dienst des Kommunismus zu stellen: »Wir müssen uns darauf vorbereiten, um diese Erfindung der kapitalistischen Welt zu ihrem eigenen Untergang werden zu lassen.« Deshalb verfolgt Vertovs Kunst »das Ziel, eine optische Verbindung zwischen den Werktätigen der ganzen Welt

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herzustellen«, denn nur so ist es möglich, »zu einer engen, unverbrüchlichen Verbindung miteinander zu kommen«.[12] Unter entgegengesetzten politischen Vorzeichen sehen die italienischen Futuristen das Fernsehen 1933 als Instrument einer faschistischen Medienmacht in der Hand der Künstler: »Wir verfügen nun über ein Fernsehen mit mehr als 50.000 Punkten für jedes große Bild auf einem großen Bildschirm. In Erwartung des Teletastsinns, des Telegeruchs und des Telegeschmacks perfektionieren wir Futuristen die Radiofonie, die dazu bestimmt ist, das schöpferische Genie der italienischen Rasse zu verhundertfachen, die gute alte Qualität der Entfernungen abzuschaffen.« Und ihr Führer Marinetti imaginiert schon zwei Jahre zuvor »Leinwände für das Fernsehen, die an eigenen Flugzeugen hängen«, um so allen Zuschauern die weit entfernte Flugvorführung der futuristischen »areopittura« zu zeigen.[13] Bald darauf findet der erste große öffentliche Auftritt des Fernsehensanlässlich der Olympiade in Berlin 1936 statt, deren Geschehen in 25 öffentliche Fernsehabspielstudios in Berlin übertragen wird. Diese von den Nationalsozialisten auch schon im Radio eingesetzte Möglichkeit zur Erweiterung von Massenveranstaltungen durch ihre synchrone Übertragung in das neue Medium entspricht weitgehend der futuristischen Utopie.

Neubeginn am Nullpunkt ab 1950

Die Utopien, welche die audiovisuellen Medien in ihrer Gesamtheit vor allem als neues künstlerisches Mittel verstanden, werden von der Realität überholt. Man könnte sagen, dass die Massenmedien nach dem Ende des 2.Weltkriegs endgültig ihre Unschuld verloren haben. Nach dem so genannten Jahr Null steht auch die künstlerische Entwicklung an einem Nullpunkt, von dem aus erst in den 1960er Jahren eine neue Entwicklung dessen beginnt, was heute üblicherweise als Medienkunst bezeichnet wird. Doch schon in den frühen 1950er Jahren lassen sich Beispiele für die neuen Haltungen gegenüber den audiovisuellen Medien ausmachen, welche diesen Nullpunkt zum Thema machen. Die Künstler sehen sich mit einem fest etablierten Mediensystem konfrontiert, dessen technische Möglichkeiten sich schneller entwickelt haben als die entsprechende Medienästhetik und das wenig Spielraum für Experimente lässt. Deshalb beziehen sich diese Ansätze implizit oder explizit auf die Medien als Gegenwelt zur Kunst. Anhand der drei Medien Radio, Fernsehen und Film werden dabei um 1951/ 1952 künstlerische Modelle vorgestellt, welche bereits prototypisch für die gesamte folgende Entwicklung sind. Drei Strategien werden hier noch in ihrer frühen, radikalen Reinform deutlich.

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Concetto spaziale (Fontana, Lucio), 1949

Utopisch-emphatische Strategie: Lucio Fontana und das Fernsehen

Die Einführung des Fernsehens in Italien gibt Lucio Fontana 1952 die erste Gelegenheit zu einer Generalprobe für die künstlerische Nutzung des Mediums mit einer Sendung über den von ihm begründeten ›Spazialismo‹. Das aus diesem Anlass verfasste »Manifest des Spazialismus für das Fernsehen« begrüßt das neue Instrument mit ähnlicher Emphase wie die italienischen Futuristen 20 Jahre zuvor, jedoch ohne deren politische Ambitionen: »Wir Spazialisten strahlen zum ersten Mal in der Welt durch das Fernsehen unsere neuen Kunstformen aus […] Das Fernsehen ist ein von uns lange erwartetes künstlerisches Mittel, das unsere Konzeptionen integrieren wird. Wir freuen uns, dass dieses Manifest, das alle Bereiche der Kunst erneuern soll, vom italienischen Fernsehen gesendet wird. Es stimmt, dass die Kunst ewig ist, aber sie war immer an die Materie gebunden. Wir dagegen wollen sie von dieser Fessel befreien, wir wollen, dass sie – selbst bei einer einzigen Minute Sendezeit – im Weltraum tausend Jahre lang dauern soll.«[14] Dem Manifest folgten jedoch keine weiteren künstlerischen Realisierungen, und weil dieseeinzige Sendung der Spazialisten live übertragen wurde, gibt es leider keine Aufzeichnung. Ganz im Sinne des Manifests bleibt die Ewigkeit dieses ersten Fernseh-Kunstereignisses also zukünftigen Betrachtern vorbehalten, die in den Fernen des Weltraums dereinst die Reste dieser Ausstrahlung empfangen mögen. Fontanas Anspruch ist als Utopie angelegt, er geht wie die Futuristen aufs Ganze: die Umnutzung des Fernsehens zu einem Instrument in den Händen der Künstler. Schon 1948 hatte Fontana im zweiten Manifest des ›Spazialismo‹ angekündigt: »Durch Radio und Fernsehen werden wir künstlerische Ausdrucksformen von ganz neuer Art ausstrahlen.«[15] Diese künstlerische Durchdringung des Raumes hat er dann seit 1949 durch die Perforation von völlig weißen Bildern, unter dem Titel »concetto spaziale«, und später ab 1953 in Lichtinstallationen mit Neonröhren visualisiert. Vielleicht war eine solche total utopische Haltung nur in einem vom Fernsehen noch weitgehend unberührten Land wie Italien möglich, da sie alle Aspekte des realen Wettbewerbs um zukünftige Märkte des Massenmediums, wie er zu dieser Zeit in den USA bereits voll im Gange ist, völlig ausblendet.

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Imaginary Landscape No. 4 (Cage, John), 19514\'33\'\' (Cage, John), 1952

Rezeptiv-analytische Strategie: John Cage und das Radio

Statt auf der Seite der Sender findet John Cage in den USA den Freiraum für eine künstlerische Neudefinition des Mediums auf der Empfängerseite. In der Komposition »Imaginary Landscape No. 4« von 1951 sowie einigen weiteren Stücken setzt er das Radio als Musikinstrument ein. 24 Ausführende stellen nach den Anweisungen der Partitur an 12 Radios Lautstärke, Tonhöhe und Sender ein. Das Stück ist vier Minuten lang, und schon ein Jahr vor seinem berühmten, stillen Stück »4'33''« wird hier eine Überlagerung von zwei Zufallstrukturen eingeführt: Für die Komposition verwendet Cage Zufallskomponenten des chinesischen Orakels I Ging, und diese verbinden sich mit dem zufälligen Klangmaterial der Radiosender, die jeweils an Ort und Zeit der Aufführung auf den vorbestimmten Frequenzen zu empfangen sind. Cage verwirklicht so eines der ersten völlig »offenen Kunstwerke« unter Einsatz technischer Medien – übrigens noch bevor Umberto Eco 1958 diesen Begriff prägt.[16]

In der Tat setzt »Imaginary Landscape No. 4« in dreifacher Hinsicht einen Neuanfang im Werk von Cage:Es ist die erste Aufführung eines Stückes, bei der er das I Ging verwendet, und es ist die erste Verwendung von nicht vorherbestimmter Medieninformation.[17] Hier treffen sich zwei entgegengesetzte Ausgangspunkte von Cages Ansatz:Das uralte chinesische Orakel und die moderne amerikanische Medientechnik. Drittens führt »Imaginary Landscape No. 4« bereits die Stille als Kompositionselement ein. Denn Cage sagt, dass bei der Uraufführung von 1951 »fast kein Ton« zu hören war und ihm diese Tonlosigkeit des Stücks schon bei dessen Komposition bewusst war.[18]

Das Publikum von »Imaginary Landscape No. 4« erlebt ebenso wie bei »4'33''« vier Minuten gesteigerter Sensibilität, in denen das reine Lauschen an die Stelle des musikalischen Inhalts tritt, allerdings noch vermittelt über die als Instrumente eingesetzten 12 Radioapparate, welche die massenmediale Allgegenwart der Sender im Moment der Aufführung als ästhetisches Rohmaterial erfahrbar machen. Insofern könnte man in heutiger Terminologie sogar »4'33''« als ›unplugged‹ Version des Stücks für Radios bezeichnen. In beiden Stücken findet die Kunst nur noch auf der

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Geheul für Sade (Debord, Guy), 1952

Rezeptionsseite statt, wobei in »4'33''« eine unmittelbare, physische Erfahrung die über das Radio vermittelte Erfahrung ersetzt. Alle Utopien von einer künstlerischen Nutzung der Senderkapazität des Massenmediums werden von Cage umgekehrt: Das Medium bleibt unverändert, nur unsere Wahrnehmung ändert sich. Vielleicht steht dahinter eine Ahnung von der Macht der Empfänger, die im Zeitalter des TV-Zappings und Web-Surfens immer stärker ihren eigenen Programmflussaus dem vorhandenen Rohmaterial der Massenmedien bestimmen.[19]

Kritisch-destruktive Strategie: Guy Debord und der Film

Mit knapp 20 Jahren schließt sich Guy Debord der Bewegung des Lettrismus um Isidore Isou an, auf die er durch ihren Skandal bei den Filmfestspielen in Cannes 1951 aufmerksam wird. Sein erster eigener Beitrag zum lettristischen Film wird am 30. Juni 1952 in Paris uraufgeführt, doch schon nach zwanzig Minuten wegen Publikumsprotest abgebrochen. Denn »Geheul für Sade« (»Hurlements en faveur de Sade«) zeigt kein einziges Bild, sondern nur abwechselnd die hellweiße oder völlig dunkle Leinwand des Kinos. In den hellenSequenzen sind gesprochene Dialoge zu hören, die dunklen Passagen sind ohne Ton. Erst am 13. Oktober 1952 wird durch einen Schutztrupp von Lettristen eine komplette Aufführung des eineinhalbstündigen Films erzwungen, bei dem das Publikum mit Versprechungen und Gewalt am Verlassen des Kinos gehindert wird und so auch in den Genuss des Endes mit 24 Minuten Dunkelheit und Stille kommt.[20]

Mit diesem ersten öffentlichkeitswirksamen Auftritt hat Debord schon die Richtung bestimmt, die ihn dann weg vom Lettrismus und hin zu seiner Gründung des Situationismus bringt. »Die Kunst der Zukunft wird eine Situationsumwälzung sein oder sie wird nichts sein«, lautet ein programmatischer Satz aus den Dialogen im Drehbuch.[21] Zwar zeigt Debords Film ebenso wie Cages »4'33''« die Leere – aber nicht als meditativen Freiraum der Sensibilität, sondern als aggressive Verweigerung gegen jede Form des Spektakels. Diese radikale Kritik der Mediengesellschaft bildet dann den Mittelpunkt seiner Theorie der »Gesellschaft des Spektakels«, die zur Grundlage der 1968er- Bewegung wird. Sein noch 1992 erklärtes Ziel, »der spektakulären Gesellschaft zu schaden«, wird schon 40 Jahre zuvor in seiner filmischen Praxis deutlich.[22]

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Drei Medien – drei Strategien

Diese drei Urmomente der Medienkunst haben neben ihrer erstaunlichen Gleichzeitigkeit auch die Gemeinsamkeit, dass sie nur noch als Entwurf oder Erinnerung überliefert sind, weil ihre audiovisuelle Form verloren gegangen ist: Fontanas Sendung wird, wie damals im Fernsehen üblich, live ohne Mitschnitt ausgestrahlt. Von Cages Kompositionen mit Radios gibt es grundsätzlich keine Aufzeichnungen, weil sich laut Cage ebenso wie bei »4'33''« ihr Sinn nur im Hier und Jetzt ihrer Aufführung erschließt. Debords Film gilt als verschollen, nur verschiedene Versionen des Drehbuchs sind erhalten.[23]

Die thesenhaften Setzungen dieser drei künstlerischen Interventionen lassen sich vielleicht auch auf den Entwicklungsstand des jeweiligen Mediums um 1952 beziehen, indem sie die Chronologie der Technikentwicklung von hinten aufrollen: Der Film ist schon so durchorganisiert und kommerzialisiert, dass er nur noch eine radikale Anti-Haltung zulässt, wie sie der Experimentalfilm und die Videokunst dann in der Folge mehrfach vorexerziert haben. Das Klangmaterialdes Radios erscheint noch als umformbar, es kann de-konstruiert und re-kombiniert werden, auch diese Strategie wird dann zum Programm der künstlerischen Arbeit mit Found Footage bis hin zum Sampling der Techno-Musik. Nur an das Fernsehen, das scheinbar ein neues, noch offenes Feld für die zukünftige Kunst anbietet, heften sich noch utopische Hoffnungen, die aber schon bald von der TV-Realität herbe entäuscht werden.[24]

Diese drei Strategien, die hier noch in konzeptueller Reinform auftreten, finden dann ab den 1960er Jahren ihre Fortsetzung, Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung in den vielfältigen Formen der Medienkunst, die dabei immer im Spannungsverhältnis zur technischen und gesellschaftlichen Medienentwicklung stehen.

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