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Eisenstein, Sergej; Pudowkin, Wsewolod i.; Alexandrow, W. Grigorij
»Manifest zum Tonfilm«
Der Traum vom Tonfilm ist Wirklichkeit geworden. Mit der Erschaffung eines brauchbaren Tonfilms haben die Amerikaner den ersten Schritt seiner substantiellen und schnellen Realisierung unternommen. Deutschland arbeitet intensiv in der gleichen Richtung. Die ganze Welt spricht von dem schweigenden Gegenstand, der sprechen gelernt hat.
Wir, die wir in der UdSSR arbeiten, sind uns der Tatsache bewusst, dass wir uns in der näheren Zukunft mit unserem technischen Potenzial nicht auf eine praktische Verwirklichung des Tonfilms zubewegen. Zugleich sehen wir es als opportun an, auf eine Anzahl prinzipieller Prämissen theoretischer Natur hinzuweisen, zumal aus den Berichten über die Erfindung ersichtlich ist, dass dieser Fortschritt für den Film auf einem unrichtigen Kurs vorangetrieben wird. Eine falsche Auffassung von den Möglichkeiten innerhalb dieser neuen technischen Entdeckung könnte nicht nur die Entwicklung und Perfektionierung des Films als Kunst behindern, sondern sie droht auch alle seine gegenwärtigen formalen Leistungen zu zerstören.
Gegenwärtig übt der mit visuellen Bildern arbeitende Film einen mächtigen emotionalen Effekt auf die Menschen aus und hat berechtigterweise eine der führenden Positionen unter den Künsten eingenommen.
Es ist bekannt, dass das elementare (und einzige) Mittel, das dem Film eine solch mächtige Kraft verliehen hat, die MONTAGE ist. Die Anerkennung der Montage als vorrangigem Gestaltungsmittel ist zum unbestreitbaren Axiom geworden, auf dem eine weltweite Filmkultur errichtet wurde.
Der Erfolg der sowjetischen Filme in den Kinos der Welt ist – bis zu einem bedeutenden Grad – auf jene Methoden der Montage zurückzuführen, die sie zuerst offenbarten und konsolidierten.
Für die weitere Entwicklung des Films werden daher nur solche Momente von Bedeutung sein, die mittels der Methoden der Montage den Zuschauer ansprechen. Untersucht man jede neue Entdeckung von diesem Gesichtspunkt aus, dann ist es leicht zu zeigen, wie bedeutungslos Farbe und stereoskopischer Film im Vergleich mit der großen Wichtigkeit des TONS sind.
Die Aufzeichnung von Ton ist eine zweischneidige Erfindung. Es ist sehr gut möglich, dass sie sich auf dem Wege des geringsten Widerstandes weiterentwickelt, d. h. auf dem Wege der Befriedigung einfacher Neugier. Zunächst werden wir es mit der kommerziellen Ausbeutung de verkaufsträchtigsten Ware zu tun haben: des TONFILMS. In ihm wird die Klangaufzeichnung naturalistisch durchgeführt werden, also in einer Weise, die genau mit der Bewegung auf der Leinwand korrespondiert und eine gewisse Illusion sprechender Menschen oder hörbarer Objekte etc. vermittelt.
Eine anfängliche Periode von Sensationen hält die Entwicklung einer neuen Kunstform nicht wirklich auf. Es ist in diesem Falle vielmehr die zweite Periode, die an die Stelle des naiven Gebrauchs der neuen technischen Möglichkeiten deren automatische Nutzbarmachung für hochkultivierte Dramen und andere fotografierte Bühnenaufführungen setzen wird.
Den Ton in diesem Sinne zu verwenden, würde aber die Zerstü rung der Montage-Kultur bedeuten, denn jegliche ÜBEREINSTIMMUNG zwischen dem Ton und einem visuellen Montage-Bestandteil schadet dem Montagestück, indem es dieses von seiner Bedeutung löst. Dies wird sich zweifellos als nachteilig für die Montage erweisen, da es sich in erster Linie nicht auf die Montage-Teile auswirkt, sondern ihre ÜBERLAGERUNG.
NUR EINE KONTRAPUNKTISCFIE VERWENDUNG des Tons in Beziehung zum visuellen Montage-Bestandteil wird neue Möglichkeiten der Montage-Entwicklung und Montage-Perfektion erlauben.
Quelle: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films., Philipp Reclam, Stuttgart 2001, S. 54–55.