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Deutsch

Sergei Mikhailovich Eisenstein
»Über den Raumfilm«

[Auszug]

[...] Umreißen wir kurz das, was den Zuschauer bei der ersten
Begegnung mit dem stereoskopischen Film vor allem beeindruckt.
Der Raumfilm liefert eine vollständige Illusion der Dreidimensionalität seiner Abbildungen.
Dabei ruft diese Illusion nicht den geringsten Zweifel hervor und ist genauso überzeugend wie die Tatsache, dass sich die Leinwandabbildungen im normalen Film wirklich bewegen, – was ebenfalls nicht den Schatten eines Zweifels aufkommen lässt. Die räumliche Illusion in dem einen Fall und die der Bewegung im anderen ist selbst für jene Leute unanfechtbar, die nur zu gut wissen, dass wir es in dem einen Fall mit einem an uns vorbeischnellenden Satz einzelner, unbeweglicher, aus einem Bewegungsprozess herausgenommener Phasen zu tun haben und im anderen Fall mit nichts weiter als dem klug erdachten Prozess der Überlagerung zweier normaler flächiger Fotoabbildungen ein und desselben Gegenstandes, die bloß gleichzeitig aus zwei sich ein klein wenig unterscheidenden Blickwinkeln aufgenommen wurden.
Hier wie da ist die Suggestion des Räumlichen und der Bewegung von umwerfender Perfektion, und die handelnden Personen eines Films kommen uns unbestreitbar echt und lebendig vor – obwohl wir sehr gut wissen, dass sie nicht mehr sind als blasse Schatten, die durch ein fotochemisches Verfahren auf kilometerlangen Gelatinebändern fixiert wurden.
Es gibt drei Arten des Raumeffekts.
Entweder verbleibt die Abbildung in den Grenzen des normalen Films als flaches Hochrelief, das irgendwo in der Fläche des Leinwandspiegels balanciert.
Oder die Abbildung drängt in die Tiefe der Leinwand, wobei sie den Zuschauer in einen früher von ihm nie gesehenen Abgrund zerrt.
Oder schließlich (und darin besteht der verblüffendste Effekt des Raumfilms): die als reale Dreidimensionalität empfundene Abbildung ›ergießt‹ sich von der Leinwand in den Zuschauerraum.
Ein Spinngewebe mit einer gigantischen Spinne hängt irgendwo zwischen Leinwand und Zuschauer ...
Vögel fliegen aus dem Zuschauerraum in die Tiefe der Leinwand. Oder sie setzen sich gehorsam auf einen Draht, hoch über den Köpfen der Zuschauer.

Betrachtet man den unmittelbaren Vorläufer des Raumfilms – den zweidimensionalen Film – aufmerksamer, so kann man sich gewiss leicht davon überzetigen, daß im Raumfilm dieselben Bestrebungen Ausdruck fanden, die dem Film seit seinem Entstehen eigen sind - nur in weit vollkommenerer Form.


Quelle: Sergej Eisenstein, Das Dynamische Quadrat. Schriften zum Film, Reclam-Verlag, Leipzig 1991, S. 198–199.