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Umberto Eco
»Das offene Kunstwerk«
[Auszug]
[...]
Zufall und Handlung
Fernseherfahrung und Ästhetik
Die Erfahrungen mit dem Fernsehen haben von Beginn an eine Reihe theoretischer Überlegungen angeregt und manche sogar von einer Ästhetik des Fernsehens sprechen lassen.
In der philosophischen Terminologie meint man, wenn man von Ästhetik spricht, eine theoretische Untersuchung über das Phänomen Kunst im allgemeinen, über den Akt des Menschen, der sie hervorbringt, und über die einer Verallgemeinerung zugänglichen Merkmale des hervorgebrachten. Gegenstands. Es ist darum, wenn nicht unerlaubt, so doch unzweckmäßig, diesen Terminus jetzt einzuengen und etwa von einer »Ästhetik der Malerei« oder »des Films« zu reden; es sei denn, man will damit eine Untersuchung über einige Probleme bezeichnen, die zwar in den Erfahrungen von Malerei oder Kinematographie besonders deutlich werden, aber dennoch eine Reflexion auf höherem Niveau und mit Geltung für alle Künste zulassen; oder doch so geartet sind, daß sie bestimmte menschliche Haltungen, die Gegenstand theoretischen Nachdenkens sind und zu einem tieferen Verständnis auf der Ebene der philosophischen Anthropologie beizutragen vermögen, beleuchten können. Wenn man aber als »Ästhetik« irgendeiner Kunstgattung technische Untersuchungen oder Vorschriften, stilistische Analysen oder kritische Beurteilungen bezeichnet, dann muß man schon, wie das in anderen Ländern der Fall ist, den Terminus in einem weiteren und zugleich konkreteren Sinn verstehen. Will man jedoch bei der traditionellen Terminologie bleiben (und sei es nur um der Klarheit willen), so wird es zweckmäßiger sein, von Poetiken oder technisch-stilistischen Analysen zu reden – was derartigen Untersuchungen gar nichts von ihrer großen Bedeutung nimmt und auch die Tatsache nicht leugnet, daß sich in ihnen, auch auf der theoretischen Ebene, oft mehr Scharfsinn findet als in vielen philosophischen »Ästhetiken«.
Angesichts des Phänomens Fernsehen und der operativen Strukturen, die es ins Spiel bringt, wird es darum interessant sein zu untersuchen, welchen Beitrag, die Erfahrungen bei der Produktion von Fernsehsendungen für die ästhetische Reflexion liefern können, sei es als Bestätigung schon gefestigter Ansichten, sei es – angesichts eines auf gegebene Kategorien nicht reduzierbaren Faktums – als Anreiz zur Erweiterung und Neudimensionierung bestimmter theoretischer Definitionen.
Insbesondere wird es' von Nutzen seit, in eine m zweiten Abschnitt zu untersuchen, welche Beziehungen zwischen den Strukturen einer Fernsehproduktion und den »offenen« Strukturen, die die moderne Kunst auf anderen Gebieten zeigt, bestehen.
[...]
FREIHEIT DER EREIGNISSE UND DETERMINISMEN DER GEWOHNHEIT
i. Nach dieser beschreibenden Analyse der psychologischen und forrnalen Strukturen beim Phänomen der Live-Aufnahme ist vor allem zu fragen, welche künstl erischen Möglichkeiten diese Art von Fernseh-»Erzählung« außerhalb der Alltagspraxis haben könnte. Eine zweite Frage betrifft die unzweifelhafte Entsprechung zwischen einer Gestaltungsart, die sich des Zufalls und der selbständigen Entscheidungen eines »Interpreten« (des Regisseurs, der mit einem gewissen Freiheitsspielraum das Thema »das-was-jetzt-und-hier-geschieht« »ausführt«) bedient, und dem für die moderne Kunst charakteristischen Phänomen, das wir in den obigen Aufsätzen als offenes Kunstwerk bezeichnet haben.
Wir meinen, daß eine Antwort, auf die zweite Frage bei der Erhellung der ersten, von Nutzen sein kann. Bei der Live-Aufnahme stellt sich ohne weiteres eine Beziehung her zwischen dem Leben in der amorphen Offenheit seiner tausend Möglichkeiten und dem plot, dem Handlungsgewebe, das der Regisseur dadurch herstellt, daß er, und sei ds auch improvisierend, eindeutige und einsinnige Zusammenhänge zwischen den ausgewählten und sukzessiv zusammenmontierten Ereignissen herstellt.
Daß die erzählende Montage ein wichtiges und entscheidendes Moment ist, haben wir gesehen; sie ist es in dem Maße, daß wir zur Bestimmung der Struktur der Live-Aufnahme auf die Poetik der Handlungverflechtung par excellence, nämlich die aristotelische – auf deren Grundlage man die Strukturen sowohl des klassischen Dramas wie des traditionellen Romans erklären kann –, zurückgreifen mußten. (14)
Doch ist der Begriff der HandIung nur ein Element der aristotelischen Poetik, und die moderne Kritik hat klar herausgestellt, daß die Handlung nur die äußere Organisation der Fakten ist, die dazu dient, eine tiefere Schicht des Dramas (oder der Erzählung) sichtbar zu machen: die Aktion. (15) Oedipus, der nach den Ursachen der Pest forscht, und sich, nachdem er entdeckt hat, daß er der Mörder seines Vaters ist und seine Mutter geheiratet hat, blendet – das ist die Handlung. Die tragische Aktion aber spielt sich auf einer tiefer liegenden Ebene ab: was hier offenbar wird, ist das komplexe Zusammenwirken von Schicksal und Schuld mit ihren unwandelbaren Gesetzen, eine Art von Dasein und Welt beherrschendem Gefühl. Die Handlung ist völlig eindeutig, die Aktion kann die Tönung von tausend Mehrdeutigkeiten annehmen und für tausend Deutungsmöglichkeiten offenstehen: die Handlung des Hamlet kann auch ein Schüler erzählen, und zwar so, daß niemand etwas einzuwenden hat, die Aktion des Hamlet hat. schon wahre Tintenströme fließen lassen und wird es auch in Zukunft tun, denn sie ist zwar eine, aber nicht eindeutig.
Nun orientiert sich die moderne Erzählkunst immer mehr in Richtung auf eine Auflösung der Handlung (im Sinne eines Setzens von eindeutigen Zusammenhängen zwischen den Ereignissen, die sich als wesentlich für die schließliche Auflösung des Knotens erweisen) und konstruiert dafür Pseudohandlungen auf der Basis der sinnlosen und unwesentlichen Fakten. Unwesentlich und sinnlos sind die Erlebnisse des Leopold Bloom, der Mrs. Dalloway, der Menschen bei Robbe-Grillet. Sie werden aber sehr wesentlich, wenn man sie nach einem anderen Kriterium der erzählerischen Auswahl beurteilt, und tragen dann alle dazu bei, eine Aktion zu entwerfen, eine psychologische, symbolische oder allegorische Entwicklung; sie werden zu Elementen einer impliziten Aussage über die Welt. Die Natur dieser Aussage, ihre Fähigkeit, auf verschiedene Arten verstanden zu werden und unterschiedliche und komplementäre Lösungen anzuregen, ist das, was wir als »Offenheit« eines erzählenden Kunstwerks definieren können: in der Ablehnung der Handlung realisiert sich die Anerkennung der Tatsache, daß die Welt ein Geflecht von Möglichkeiten ist und daß das Kunstwerk diesen Charakter der Welt wiedergeben soll.
Während nun der Roman und das Theater (Ionesco, Beckett, Adamov, Werke wie The Connection) entschlossen diesen Weg einschlugen, schien es, als ob eine andere der auf Handlung beruhenden Künste, der Film, diese Möglichkeit nicht ergreifen wollte. Der Grund dafür lag in zahlreichen Faktoren, nicht zuletzt in seiner gesellschaftlichen Bestimmung, dergemäß der Film im Gegensatz zum Rückzug der übrigen Kunstgattungen ins Experimentierlaboratorium der offenen Strukturen den Rapport zum breiten Publik aufrechterhalten und jenen Beitrag, an traditioneller Dramaturgie liefern mußte, der eine tiefe und begründete Notwendigkeit unserer Gesellschaft und unserer Kultur darstellt – wir möchten hier betonen, daß eine Poetik des offenen Kunstwerks nicht als die einzige heute mögliche Poetik betrachtet werden darf, sondern nur als eine, vielleicht die interessanteste Manifestation einer Kultur zu gelten hat, die daneben noch andere Bedürfnisse befriedigen muß und sie auf höchstem Niveau unter zeitgemäßer Benutzung traditioneller operativer Strukturen befriedigen kann: weshalb ein so fundamental »aristotelischer« Film wie Stagecoach ein exemplarisches Monument der modernen Erzählkunst darstellt.
Ganz plötzlich – das kann man wohl sagen – erschienen nun Werke auf der Leinwand, die entschlossen mit den traditionellen Handlungsstrukturen brachen, um eine Reihe von Ereignissen zu zeigen, zwischen denen kein dramatischer Zusammenhang im konventionellen Sinn besteht, eine Erzählung, bei der nichts geschieht oder Dinge geschehen, die nicht mehr das Aussehen eines Erzählten, sondern nur mehr eines zufällig Geschehenen haben. Die berühmtesten Beispiele für diese neue Art waren in 'Italien Antonionis L´Avventura (»Die mit der Liebe spielen«) und La Notte (das erste radikaler, das zweite gemäßigter und der traditionellen Anschauung näherstehend).
Bemerkenswert ist nicht nur die Tatsache, daß diese Filme als Ergebnis einer besonderen experimentellen Entscheidung eines Regisseurs entstanden: wichtig erscheint uns, daß sie vom Publium zwar auch kritisiert und geschmäht, aber schließlich doch als etwas, über das man schlimmstenfalls streiten kann, das aber doch möglich ist, akzeptiert und assimiliert wurden. Man kann sich fragen, ob es Zufall ist, daß diese Art zu erzählen erst nach einigen Jahren der Gewöhnung der Sensibilität an die Logik der Fernseh-Live-Sendung vor das Publikum gebracht werden konnte. Ist doch die Live-Sendung ein Erzählungstyp, der, wie zusammenhängend und konsequent er auch erscheinen mag, als Ausgangsmaterial stets die rohe Folge der nätürlichen Ereignisse verwendet; bei dem die Erzählung, selbst wenn sie einen durchgehenden Handlungsfaden besitzt, doch ständig in die bloße Notierung von Unwesentlichem ausweicht, bei dem für lange Zeit auch gar nichts geschehen kann, etwa wenn die Kamera die Ankunft eines Rennfahrers erwartet und auf dem Publikum und den Häusern er Umgebung aus keinem anderen Grund verweilt, als weil die Dinge so sind und sonst nichts zu tun ist. . Bei einem Film wie L'Avventura fragt man sich in vielen Augenblicken, ob er nicht das Ergebnis einer Live-Sendung hätte sein können. Und das nämliche gilt für einen großen Teil des nächtlichen Festes in La Notte und für den Spaziergang der Heldin´unter den Kindern, die auf der Wiese Raketen steigen lassen, im
Selben Film.
Es wäre zu überlegen, ob die Live-Sendung, entweder als Mitursache oder als bloß gleichzeitiges Phänomen, nicht in den Zusammenhang der Untersuchungen und Ergebnisse über eine größere Offenheit der Erzählstrukturen und die ihnen innewohnende Möglichkeit, das Leben in seiner Vielheit von Richtungen ohne vorher festgelegte Zusammenhänge wiederzugeben, gehört.
[...]
Das ist die Situation des Fernsehens in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung, einer bestimmten kulturellen Periode, einer bestimmten soziologischen Situation, die dem Medium eine bestimmte Funktion gegenüber einem bestimmten Publikum zuweist. Nichts verbietet es, sich ein Zusammentreffen verschiedener geschichtlicher Umstände vorzustellen, die aus der Live-Aufnahme ein Mittel der Erziehung zu einer freieren Ausübung der Sensibilität, zu entdeckungsreichen Assoziationsabenteuern und damit zu einer anderen psychologischen und kulturellen Dimension machen könnten. Doch muß eine Beschreibung der ästhetischen Struktur der Fernsehaufnahmen von Aktualitäten die tatsächlichen Gegebenheiten berücksichtigen und das Medium und seine Gesetze in Relation zu einer bestimmten Stellung dieses Mediums gegenüber seinem Publikum sehen. Innerhalb dieser Grenzen würde eine Live-Sendung, die an L'Avventura erinnerte, sehr wahrscheinlich zu einer schlechten Live-Sendung, in der eine unkontrollierte Kausalität dominierte. Und der kulturelle Bezug könnte dann nur ironischen Charakter haben.
In einer Geschichtsperiode, in der die Poetiken des offenen Kunstwerks entstehen, müssen nicht alle Typen künstlerischer Kommunikation sich an ihnen ausrichten. Die aristotelisch verstandene Handlungsstruktur bleibt verbindlich für viele weitverbreitete Produkte, die eine sehr wichtige Funktion ausüben und ein sehr hohes Niveau erreichen können (denn der künstlerische Wert hängt nicht unbedingt von der Neuheit der Techniken ab – obwohl die Verwendung neuer Techniken ein Anzeichen für jene technische und imaginative Frische ist, die eine wichtige Voraussetzung für das Erreichen eines ästhetischen Wertes darstellt). Als eines der letzten Bollwerke jenes tiefen Bedürfnisses nach Handlung, das in jedem von uns steckt – und das irgendeine Kunstform, irgendeine alte oder neue Gattung auch in Zukunft wir befriedigen wird –, muß die Live-Sendung nach den Bedürfnissen und den Strukturen, durch die sie das tut, beurteilt werden.
Dessenungeachtet bleiben ihr noch viele Möglichkeiten für ein offene Gestaltung und für Erkundungen und Klärungen der tiefgehenden Indeterminiertheit der Tagesereignisse: sie wird sie genutzt haben, wenn die Registrierung des Hauptereignisses, das nach Wahrschienlichkeitsregeln montiert ist, sich mit Randnotizen anreichert, mit raschen Ausblicken auf die umgebende Realität, die für die Haupthandlung zwar unwesentlich sind, aber gerade in ihrer Dissonanz dazu auf andere Möglichkeiten, divergierende Entwicklungsrichtungen, eine andere Organisation, der man die Ereignisse unterwerfen könnte, anspielen.
Dann könnte – , ein nicht zu unterschätzender pädagogischer Effekt – der Zuschauer, die wenn auch vage, Empfindung bekommen, daß das Leben sich in der Handlung, die er mit Spannung verfolgt, nicht erschöpft und daß folglich auch er in dieser Handlung nicht aufgehen kann. Die Randnotiz, die den Zuschauer dem hypnotischen Bann, in den die Haupthandlung ihn schlägt, zu entziehen vermag, würde dann als ein Motiv der »Verfremdung« wirken, als überraschender Bruch in einer passiven Aufmerksamkeit, als Aufforderung zum Urteil – oder jedenfalls als Anreiz zur Befreiung von der verführerischen Macht des Bildschirms.
Quelle: Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, 2. Aufl., Frankfurt am Main, 1977, S. 186–187, 199–203, 210–211. Titel der Originalausgabe Umberto Eco, Opera aperta, Mailand 1962, 1967.