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Deutsch

Dziga Vertov
»Kinoprawda und Radioprawda«

(Als Vorschlag)

Der Textilarbeiter muß den Maschinenbauer sehen, wenn dieser die Maschine für jenen herstellt. Der Arbeiter der Maschinenfabrik muß den Kohlenhauer sehen, wenn dieser das erforderliche Brennmaterial für seinen Betrieb abbaut. Der Kumpel muß den Bauern sehen, der für ihn Getreide anbaut.

Alle Werktätigen müssen einander sehen, um zu einer engen, unverbrüchlichen Verbindung miteinander zu kommen. Die Werktätigen der UdSSR müssen sehen, daß auch in anderen Ländern - in England, in Frankreich, in Spanien usw. - Werktätige wie sie leben und das Proletariat überall einen Klassenkampf mit der Bourgeoisie führt. Aber die verschiedenen Werktätigen sind weit voneinander entfernt und können sich deshalb nicht sehen.

Die Arbeiter und die Bauern müssen jenen Worten Glauben schenken, mit denen ihnen der eine oder der andere (Lehrer, Agitator) die Lage der anderen Arbeiter und Bauern, die sich nicht gleichen Ort befinden, beschreibt. Aber jeder Lehrer, Agitator, Geistesschaffender, Schriftsteller usw. schildert das, was an einem anderen Ort vorgeht, auf seine Weise, in Abhängigkeit von vielen Ursachen: seinen Überzeugungen, seiner Bildung, seiner Fähigkeit zu schreiben oder zu sprechen, seiner Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit, »Stimmung« und seinem Gesundheitszustand zum gegebenen Augenblick. Wie können die Werktätigen nun dennoch einander zu Gesicht bekommen?

»Kinoglas« verfolgt das Ziel, eine optische Verbindung zwischen den Werktätigen der ganzen Welt herzustellen. Die Mitarbeiter des »Kinoglas« - die Kinoki - arbeiten auf dem Gebiet der Filmchronik (»Kinoprawda«, »Kinokalendar«, »Kinoglas«) und auf dem Gebiet wissenschaftlicher Aufnahmen (»Seidenzucht«, »Verjüngung») - wissenschaftlicher Teil des Films (»Abort«, »Radioprawda« u. a.).

Die Bewegung des »Kinoglas« lenkt allmählich die Aufmerksamkeit auf sich, findet Sympathie. Interessierte lokale Briefe, die die Beschlüsse der bäuerlichen Zuschauer unterstützten, entstehende Zirkel von Kinoki-Beobachtern, die Verstärkung der Kinoki durch den trainierenden Nachwuchs der Komsomolzen-Kinoproduktionsarbeiter und schließlich die Hinwendung eines Teils der staatlichen Auftraggeber zu »Kinoglas« – all das ermuntert uns in beträchtlichem Maße in unserem Kampf.

Als am konservativsten erweisen sich in diesem Fall die Filmtheater, die durch Langmetrage-Filme gebunden sind. Es ist notwendig die Losung »gemischter Programme« aufzustellen:
a) Filmchronik in drei Teilen vom Typ des »Kinoglas«, sagen wir der »Leninskaja Kinoprawda«
b) Chargen, ein Teil;
c) wissenschaftlicher Film, ein oder zwei Teile (oder Landschaftsfilm);
d) Drama oder Komödie, zwei Teile.
Solche gemischten Programme, an die man die Theater und das Publikum allmählich gewöhnen muß, werden uns in die kommerziellen Filmtheater Eingang verschaffen und die Voraussetzungen zur Rentabilität bilden, zur Einträglichkeit bei der Chronik und dem
wissenschaftlichen Film, selbst in dem Fall, wenn ihre Herstellung beträchtliche Summen erfordert.

Selbstverständlich kann sich das angeführte Verhältnis zur einen oder zur anderen Seite hin verändern. Genosse Lenin erhob schon 1922 die Forderung, daß innerhalb der Filmprogramme ein bestimmtes Wechselverhältnis zwischen den »unterhaltenden« Filmen (speziell für Reklame- und Einnahmezwecke) und der propagandistischen Chronik »aus dem Leben der Völker aller Länder« festgelegt werden sollte.

Nach einiger Zeit erinnerte Genosse Lenin in einem persönlichen Gespräch mit Genossen Lunatscharski erneut an die Notwendigkeit, innerhalb des Filmprogramme ein »bestimmtes Wechselverhältnis zwischen den unterhaltenden und den wissenschaftlichen Filmen festzulegen«, und wies darauf hin, daß die »Produktion neuer Filme, die von kommunistischen Ideen erfüllt seien und die sowjetische Wirklichkeit widerspiegelten, mit der Filmchronik begonnen werden müsse«. Genosse Lenin fügte hinzu: »Wenn ihr eine gute Filmchronik mit ernsten und aufklärenden Filmen habt, wenn dann, um das Publikum heranzuziehen, irgend so ein nutzloser Film von mehr oder weniger üblichem Typus läuft, dann fällt das nicht so sehr ins Gewicht«.

Für niemand ist es ein Geheimnis, daß diese nachdrückliche Anweisung des Genossen Lenin bis jetzt nicht im geringsten erfüllt ist.

Die Programme der Filmtheater werden von Spielfilmdramen bestritten; das versetzt die Arbeit der Kinoki auf dem Gebiet der Filmchronik und auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Aufnahmen in eine äußerst ungünstige Situation und in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Spielfilm. Dieser verfügt über die größten finanziellen Mittel und über die besten Produktionsausrüstungen. Der Tabelle:

Spielfilm 95 Prozent

Wissenschaftliche Lehr-
und Landschaftsfilme 5 Prozent

100 Prozent

ist die Tabelle entgegenzustellen:

»Kinoglas« (Alltag) 45 Prozent

Wissenschaftliche
Lehrfilme Spielfilmdramen 30 Prozent
25 Prozent
100 Prozent

So wird die Frage des »Kinoglas«, das heißt, der Organisation der Wahrnehmung der Werktätigen gelöst werden.

Wir setzen die Agitation vermittels Fakten nicht nur auf dem Gebiet des Visuellen, sondern auch des Akustischen auf die Tagesordnung. Wie ist die akustische Verbindung auf der Linie der gesamten Front des Weltproletariats herzustellen? Wenn hinsichtlich der Wahrnehmung die Kinobeobachter sichtbare Erscheinungen des Lebens mit der Kamera fixierten, so ist im vorliegenden Fall von der Aufzeichnung akustischer Fakten zu; sprechen. Wir kennen ein solches Tonaufzeichnungsgerät - das Grammophon. Aber es gibt auch andere, vollkommenere Apparaturen; sie zeichnen jedes Rascheln, jedes Flüstern, das Rauschen eines Wasserfalls, den Vortrag eines Redners usw. auf. Diese Tonaufzeichnung kann nach ihrer Organisation - der Montage - mühelos durch den Rundfunk als »Radioprawda« übertragen werden.

Auch hier, im Übertragungsprogramm aller Rundfunkstationen, kann ein bestimmtes Wechselverhältnis zwischen Radiodramen, Radiokonzerten und der Radiochronik »aus dem Leben der Völker aller Länder« festgelegt werden.

Die '»Radiozeitung« ohne Papier und Entfernung (Lenin) - das ist die grundlegende Bestimmung des Radios, nicht jedoch die Übertragung von »Carmen«, »Rigoletto«, Romanzen u. dgl., womit unser Rundfunk seine Arbeit zu entwickeln begann. Noch ist es nicht zu spät; wir müssen unser Radio davor bewahren, der »künstlerischen Rundfunkübertragung« zu erliegen. (Denken Sie an die Übernahme des Spielfilms!)

.Wir stellen »Kinoprawda« und »Kinoglas« dem Spielfilm entgegen; »Radioprawda« und »Radioucho« stellen wir der »künstlerischen Radioübertragung« entgegen.

Die Technik macht rasche Fortschritte. Schon ist ein Verfahren zur Radioübermittlung von Bildern erfunden. Außerdem ist ein Verfahren zur Tonaufzeichnung auf dem Filmstreifen erfunden. In kürzester Zeit wird der Mensch optische und akustische Phänomene, die von einer Funkfilmkamera aufgenommen sind, in die ganze Welt senden können.

Wir müssen uns darauf vorbereiten, um diese Erfindungen der kapitalistischen Welt zu ihrem eigenen Untergang werden zu lassen.

Und wir werden uns nicht darauf vorbereiten, Dramen und Opern zu senden. Wir werden uns verstärkt darauf vorbereiten, um den Proletariern aller Länder die Möglichkeit zu geben, organisiert, die ganze Welt zu sehen und zu hören, einander zu sehen, zu hören und zu verstehen.

1925

Quelle: Dziga Wertow, Aufsätze, Tagebücher, Skizzen, zusammengestellt und eingeleitet von Sergej Drobatschenko, erschienen Moskau 1966, in dt. Fassung in der Auswahl von Hermann Herlinghaus unter Mitarbeit von Rolf Liebmann Berlin 1967.