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Deutsch

Antje Quast
»»poésie pratique«, surrealistischer Film und Dispositive des Dokumentarischen«

Motto: »Haben Sie es mit eigenen Augen gesehen? – Nein, aber der Freund, der es mir erzählt hat. –
Aber, bitte, überlegen Sie: erzählt!« (Gespräch einiger Hotelgäste in Alain Resnais, »L’année dernière à Marienbad«, 1960/61)

»poésie pratique«
»Der Mensch fügt und verfügt. Es hängt nur von ihm ab, ob er sich ganz gehören, das heißt, die jeden
Tag furchterregende Zahl seiner Begierden im anarchischen Zustand halten will. Die Poesie lehrt es
ihn. Sie trägt in sich den vollkommenen Ausgleich für das Elend, das wir ertragen. Sie vermag auch
eine ordnende Kraft zu sein, wenn es einem, unter dem Eindruck einer weniger persönlichen
Enttäuschung, einfallen sollte, sie tragisch zu nehmen. Die Zeit komme, da sie das Ende des Geldes
dekretiert und allein das Brot des Himmels für die Erde bricht! [...] Schluß mit dem absurden
Auswählen von Dingen, den Träumen vom Abgrund, den Rivalitäten, Schluß mit der langen Geduld,
der Flucht der Jahreszeiten, der künstlichen Ordnung der Ideen, dem Schutzwall vor der Gefahr, der
Zeit für alles! Man gebe sich doch die Mühe, die Poesie zu praktizieren. Ist es nicht an uns, die wir
bereits davon leben, zu versuchen, dem größere Geltung zu verschaffen, was am meisten für uns
zeugt?
Es ist unwichtig, dass ein gewisses Missverhältnis zwischen dieser Verteidigung und der ihr folgenden
Darstellung besteht. Es ging darum, zu den Quellen der dichterischen Imagination herabzusteigen und
vor allem dort zu bleiben,« schreibt André Breton im Surrealistischen Manifest von 1924.1
Die »poésie pratique« spricht die wesentlichen Aspekte surrealistischer Kunst- und Lebensauffassung
der 20er Jahre an: Der in seiner Erlebnisfähigkeit durch eine zweckrational ausgerichtete Lebenswelt
beschnittene Mensch kann kraft der Poesie ganz sich selbst gehören:
»er ist unfähig geworden, eine außerordentliche Situation, die Liebe etwa, zu erleben [...]. Denn er ist
nun mit Leib und Seele einer gebieterischen, praktischen Notwendigkeit unterworfen, die es nicht
duldet, dass man sie unbeachtet lässt.«2
Die »Freiheit« ist das Ziel der »poésie pratique«, Imagination, Wahnsinn, das Wunderbare und der
Traum sind ihr verwandt, um die von »absolutem Rationalismus« beherrschte Welt der Fakten hin auf
ein dem Menschen entsprechenderes, ganzheitliches Erleben zu transgredieren.
Dabei ist der Traum auch Ordnungsprinzip:
»Innerhalb der Grenzen, in denen er sich vollzieht [...] besitzt der Traum allem Anschein nach eine
Kontinuität und Anzeichen von Ordnung.«3 Und wenn Breton wenig später die Frage stellt: »Ist der
Traum weniger pragmatisch als das übrige Leben?«, dann wird hier die Gleichsetzung von Kunst und
Leben, das über die Rationalität hinausgeht, indem es zwingt, auch »eine Reihe von Vorgängen zu
akzeptieren, deren Seltsamkeit [...] mich zu Boden schmettern würde«4 rückhaltlos zu akzeptieren, und
die dann in der ersten Definition des Surrealismus aufgeht, vorweggenommen:
»Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und
Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität.«5
Die Definition der Surrealität geht einher mit einer Kritik am realistischen Roman und der
Beschreibung, in der Art von »Die Marquise ging um fünf Uhr aus«,6 mit dem Bekenntnis zur
fantastischen Literatur7 und der Aufwertung des Wunderbaren, das sowohl offenbart als erzeugt
werden muß. Dabei ist das Wunderbare wandelbar und erinnert in manchem an Baudelaires Definition
der Modernen; es ist aber vor allem die spezifische Qualität mancher Orte oder Gegenstände:
»Das Wunderbare ist nicht zu allen Zeiten dasselbe; dunkel nimmt es teil an einer Art allgemeiner
Offenbarung, die uns nur in ihren Einzelheiten überkommt: das sind die romantischen Ruinen, das
moderne Mannequin (die Puppe) oder jedes andere Symbol, das geeignet ist, die menschliche
Phantasie eine zeitlang zu beschäftigen.«8 Anschließend entwirft Breton das Szenario eines Schlosses,
das als idealer Treffpunkt des surrealistischen Freundes- und Bekanntenkreises gilt, wo der »Geist der
Demoralisierung« herrscht, wo die Freunde »Herr über uns selber und auch über die Frauen, über die
Liebe, sind«,9 wo Begegnung ebenso möglich ist, wie Einsamkeit: »Wir leben wirklich ganz in unserer
Phantasie, wenn wir dort sind. Und wie könnte das, was der eine tut, den anderen stören – hier, wo wir
frei von sentimentalen Spielregeln, am Treffpunkt der Zufälle sind?«10
Das Schloß ist zugleich ein realer und ein imaginierter Ort, ein magischer Ort, an dem bestimmte
Begegnungen und Erlebnisse möglich sind, an dem das Wunderbare sich offenbaren und ereignen
könnte.
Die Offenbarung und Erzeugung des Wunderbaren verlangt Strategien, die bestimmte Zustände,
Sichtweisen, eine Haltung der Erwartung und Offenheit im Blick auf Reales ebenso wie auf
Literarisches oder künstlerisch Gestaltetes voraussetzt. So beschreibt Breton, dass er in einer Studie
über Robert Desnos (in »Pas perdus«) eine Strategie der Erzeugung praktischer Poesie in der
Konzentration der »Aufmerksamkeit auf mehr oder weniger vollständige Sätze [...] die, in völliger
Einsamkeit, beim Einschlafen, für den Geist wahrnehmbar werden, ohne dass man für sie eine
vorhergegangene Bestimmung entdecken kann.«11 Das Verfahren, dessen Bedingungen Breton hier
genannt hat, wird im Rückgriff auf die Erzeugung des Bildes bei Reverdy spezifiziert. Hier zeigt sich
nicht nur die technische Seite des Verfahrens, sondern auch seine absolut wirkungsästhetische
Ausrichtung:
»Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. Es kann nicht aus einem Vergleich entstehen, vielmehr
aus der Annäherung von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten. Je entfernter
und je genauer die Beziehungen der einander angenäherten Wirklichkeiten sind, um so stärker ist das
Bild – um so mehr emotionale Wirkung und poetische Realität besitzt es...usw.«12
Hier wird die Zweischrittigkeit des Verfahrens deutlich: Die Kombination von zwei disparaten
Bildern, Gegenständen, Sachverhalten, die keineswegs willkürlich ist, sondern ihre spezifische
wirkungsästhetische Qualität allererst durch die Weite ihres Auseinanderfallens und die Genauigkeit
im Zusammenbringen entfaltet, und die eben dadurch erst emotionalen und Realitätscharakter erzeugt.
»Emotionale Wirkung« und »poetische Realität« des Bildes dienen schließlich dazu, der Gesamtheit
der erfahrbaren Tatsachen des Lebens, etwa die in der zweckrational ausgerichteten, bürgerlichen
Welt, die Breton zum Gegenbild stilisiert, verdrängten Seiten der menschlichen Natur, das
Wunderbare, in eine Synthese von Kunst und Leben einfließen zu lassen: »Poetisch betrachtet,
zeichnen sie [die Bilder, disparaten Elemente, d.Vf.] sich vor allem durch einen sehr hohen Grad von
unmittelbarer Absurdität aus, wobei das Spezifische dieser Absurdität sich bei näherem Hinsehen als
Platzmachen erweist für alles nur Zulässige, auf der Welt Gültige: die Ausbreitung einer gewissen
Zahl von Eigenschaften und Tatsachen – die schließlich ebenso objektiv sind wie die anderen.«13
Dispositive des Dokumentarischen:
Das Dokumentarische zeichnet sich aus durch die Kategorien der Referentialität, der Historiographie
und der Repräsentation. Obgleich etwa das Dokumentarische, in Literatur wie im Film, sogenannten
fiktionalen Erzählformen eng verwandt bleibt, erhält es sein besonderes Gewicht, die ihm
zugeschriebene besondere Authentizität, allererst in seinem spezifisch repräsentativ vorgestellten
Realitätsbezug, der sowohl Bestandteil der Zuschauererwartung wie zugleich Charakteristikum seiner
Erzählstruktur ist. Das Dokumentarische wird innerhalb eines Spannungsfeldes definiert, dessen
Schlüsselbegriffe Eskapismus des (fiktiven) Romans oder des Spielfilms, soziale Wirklichkeit im
Gegensatz zu Ästhetizismus, »Abbildung« gegen Fiktionalisierung des Realen, Bestätigung der
Wirklichkeit im Gegensatz zur (aktiven) Veränderung der bestehenden Verhältnisse u.a. sind. Wenn
man auf die durch Grierson und Rotha 1952 in dem Untertitel des Buches »Documentary Film«
gegebene grundlegende Definition des Dokumentarfilms zurückgreift, auf die sich beinah alle
Filmemacher und Filmtheoretiker auch der nachfolgenden Zeit beziehen, dann lassen sich eine Reihe
von Definitionskriterien des Dokumentarischen festschreiben, die ebenso wie für den Film auch für
die Literatur gelten können. Die Kriterien beziehen sich auf drei Ebenen: den Geltungsanspruch, den
Realitätsgrad und die Wirkung des Dokumentarischen. Das Dokumentarische zeichnet sich demnach
aus durch seine didaktische, auf die Emanzipation der Zuschauer fixierte Ausrichtung, es wird als
Kampf im Sinn von Revolte, wenigstens aber als Aufklärung verstanden und schließlich garantiert ein
technischer Purismus der Abbildung oder ein katalysatorischer Einsatz der Technik den besonderen
Realitätsgrad.14 Nimmt man spätere Definitionsversuche etwa des Dokumentarfilms hinzu, so lassen
sich als Eckpunkte für eine Begriffsdefinition »die physische Realität, die soziale Funktion, die
(historiographische) Diskurszugehörigkeit, die außerfilmische Referenz und die appellative
Zuschaueransprache oder die den Text kategorisierende Erwartungshaltung«15 herausstellen. Selbst
wenn man poststrukturalistische Filmtheorien mit einbezieht, die den Dokumentarfilm gerade durch
seine Nichtdefinierbarkeit in Termini des Genres, des Materials, der Art der Annäherung an einen
Sachverhalt oder der Technik, bestimmt sieht, so bleiben als die entscheidenden Orientierungspunkte
für eine Bestimmung des Dokumentarischen der »Materialstatus, Geltungs- und Wahrheitsanspruch
und [...] argumentative Beweisführung«16 bedeutsam.
Die Affinität von »poésie pratique« und dokumentarischen Dispositiven liegt auf der Hand.
Das Spannungsfeld, innerhalb dessen das Dokumentarische definiert wird, bezeichnet den Status der
»poésie pratique«. Auf der Ebene des »Materialstatus« bezieht die »poésie pratique« etwa eines
Aragon oder Breton die »physische Realität« in Form der Integration von Fotos und durch eine neue
Form des Einsatzes von realitätsgetreuen, minutiösen Beschreibungen in die unter der Bezeichnung
»Roman« präsentierten Erzählformen ein. Dabei geht es immanent stets auch um die Frage nach dem
Anteil von »Objektivität« als getreuer Abbildung außerästhetischer Realität, »Objektivität« als
neutraler, intentionsloser Autorenhaltung (den vorgeblich »objektiven« Part, den im Dokumentarfilm
die »neutrale« Kamera übernimmt) und »Subjektivität« als Anteil des bloß Fiktiven, Erfundenen,
Gestalteten. In der »poésie pratique« wird diese Frage einerseits aufgehoben in einer stets neu zu
erfindenden Form, etwa einer Kombination aus kleinen Erzählungen, argumentativer Beweisführung,
der Beigabe von Fotos, bestimmter Collage- und Montagetechniken. Die in der genannten Frage
postulierte Trennung zwischen »Abbildung« der Realität und Fiktion wird andererseits überschritten
in der explizit wirkungsästhetischen Ausrichtung, die auf emotionalen Schock, auf Veränderung des
Erfahrungshorizonts, soziale Veränderung zielt. Während die »poésie pratique« sich hier noch im
Spannungsfeld einer Definition des Dokumentarischen bewegt, erweitert Breton den Begriff der
Realität hin auf eine umfassende »vie réelle«,17 in der »Objektivität« und »Subjektivität« in der
Evokation und Erzeugung umfassender Erfahrung ineinandergreifen. Der »dokumentarische Blick«,
falls es ihn gäbe, würde dann ebenso für die Lebenspraxis wie als künstlerische Strategie fungieren.
Streng genommen bedeutet dies, dass der Werkbegriff abgeschafft würde: Er würde sich nur noch
durch seine Medialität und seine faktische Begrenztheit auszeichnen, in dem Sinne, dass er (nicht
unbedingt im organischen Sinne) einen Anfang und ein Ende hätte. Die angestrebte aufgehobene
Dichotomie zwischen Kunst und Leben kristallisiert sich dann im Bezug auf das erfahrende
Individuum als Zentrum, das sich in pseudo-autobiographischen, dokumentarischen Formen
»mitteilt«. Eine »Objektivierung« findet hier dann nicht nur über die genannten stilistischen Tricks,
sondern vor allem inhaltlich, im Abheben auf die übersubjektive Verbindlichkeit der Erfahrung hin,
statt. Daher generiert die »poésie pratique« besonders affine Themenkomplexe, etwa das Wunderbare,
die amour fou als die leidenschaftliche, gesellschaftliche Konventionen sprengende Liebe, solche
Themenkomplexe, Motive und Objekte, die sozusagen inhaltlich dazu tendieren, Magie zu
transportieren, die eben einen Diskurs entwickeln, der jenseits von dem liegt, was eigentlich gezeigt
wird.
Louis Aragon, »Le Paysan de Paris« (1926)
Im Mittelpunkt von Aragons »Le Paysan de Paris« steht keine Handlung, sondern zwei Orte: die
Passage de l’Opéra und der Park der Buttes-Chaumont. Aragon baut keine einheitliche Fiktion auf,
sein Text umfasst ein reichhaltiges Spektrum vom neutralen Bericht, minutiöser, reiseführerartiger
Beschreibung von Orten (so bezeichnet sich der paysan, hinter dem sich Aragon verbirgt, etwa als
»petit kodak«), der Einfügung von Plakat- und Annoncentexten in ihrer faktischen Typographie und
Spatialisierung, bis hin zu metaphorischen, lyrisch anmutenden Textpassagen.
Die Passage de l’Opéra und der Park der Buttes-Chaumont sind für den paysan anziehende, magische
Orte, eben weil sie »zwielichtig« sind. Walter Benjamin bezeichnet die Passagen etwa als »Mittelding
zwischen Straße und Intérieur«.18 Im Park treffen Stadt und Natur aufeinander. Aragon erklärt sie zu
»lieux sacrés«, weil ihm an ihnen durch ihre uneindeutige Natur Erfahrungen möglich scheinen, die
eine zweckrational geordnete Realität überschreiten:
»Je veux bien être pendu si ce passage est autre chose qu’une méthode pour m’affranchir de certaines
contraintes, un moyen d’accéder au-delà de mes forces à un domaine encore interdit.«19 Die »lieux
sacrés« sind also ein Methode zur Befreiung von Zwängen, sie sind Hilfsmittel, die dem Zweck
dienen, »le merveilleux quotidien« zu erleben. In diesem Sinne dienen sie ebenso wie die
Beschreibungen zunächst dazu, ein ästhetisches Erleben der gegebenen Wirklichkeit zu ermöglichen,
um dann in noch unbekannte Welten vorzustoßen. Gerade weil es hier um eine magische Auffassung
der Realität geht, verwendet der Autor einige Strategien darauf, diese Magie mit als dokumentarisch
geltendem Material abzusichern. So geht Aragon etwa auf die soziale Lage der Händler in der Passage
ein und führt Zeitungsausschnitte und Schilder zur argumentativen Belegung an. Ebenso werden im
zweiten Teil des Buchs, in die Wanderung durch den nächtlichen Park, dokumentarische Elemente,
etwa die Inschrift einer Säule, eingefügt. Indem diese Dokumente in maximaler Präzision und
»Abbildlichkeit« in den Text hineingenommen werden, sie aber innerhalb des Textes keinerlei
Funktion haben, entfaltet er ihren maximalen wirkungsästhetischen Impetus: Die Beglaubigung der
Authentizität des Dargestellten durch Dokumente aller Art legt nahe, dass der Text nicht »ästhetisch«
ist, nicht zum Bereich des Fiktionalen gehört. Indem die Dokumente innerhalb des Textes keine
Funktion haben, vielmehr seinen Montagecharakter im Sinne der surrealistischen Theorie des
»image«, wie sie im Ersten Surrealistischen Manifest anklang, unterstreicht, entlarvt Aragon die
Scheinhaftigkeit der Kohärenz etwa des sogenannten realistischen Romans (als Paradigma gilt etwa
Balzac). In diesem doppeltem Sinne bestätigt sich hier Aragons Gleichsetzung von Realität und
Illusion am Anfang von »Discours de l’imagination«: »D’une illusion à l’autre, vous retombez sans
cesse à la merci de l’illusion Réalité.«20
Obgleich »Le Paysan de Paris« nicht im Sinne eines realistischen Romans kohärent ist, etwa einzelne
Teile durchaus weggelassen werden könnten, ohne dass sich der Gesamtcharakter des Buches
verändern würde, lässt sich doch ein erzählerisches Grunddispositiv ausmachen, das vor allem in der
Haltung des paysan, der sich als Verlängerung des Typus des Flaneurs lesen lässt, gründet. Als Bauer
vom Land in der Großstadt, ist er hin- und hergerissen zwischen Fremdheit und Vertrautheit. Die
Fremdheit macht seinen Blick zugleich unschuldig und besonders scharf, er ist in besonderer Weise
disponiert für die Erfahrungen des »merveilleux quotidien«. Als Flaneur, von dem Walter Benjamin
für den Typus des 19. Jahrhunderts behauptet, dass er zum »Detektiv wider Willen wird«,21 wird der
paysan von 1926 zu einem Detektiv im eigenen Auftrag, der mit der Haltung einer absoluten,
sinnlichen Offenheit und in der exakten Registrierung der Wirklichkeit, im Aufsuchen von magischen
Orten, die außerordentliche Erfahrung herbeiführen will. Als Detektiv in eigenem Auftrag ist er dabei
von keinerlei intentionalem oder sachlichem Bezug geleitet, vielmehr sucht er eine unbestimmte
Subjekt-Objekt-Beziehung, die sich im sinnlichen Schauder, dem »frisson« manifestiert, und für den a
priori zunächst jedes Objekt und jede Konstellation in Frage kommt. Sinnliche Wahrnehmung und
Zufall sind dabei die Mittel, den »frisson« herbeizuführen.
Das Vorwort zu seinem Buch nennt Aragon »Préface à une mythologie moderne«; die »mythologie
moderne« ist zusammen mit der »vie poétique«, die sich durchaus im Sinne von Bretons »vie réelle«
verstehen lässt, die theoretische, gewissermaßen argumentative Grundlage für »Le Paysan de Paris«.
Die »mythes« stehen dabei für solche Erscheinungen, die nicht von zweckrationaler Ordnung
bestimmt sind, wie etwa den »hasard«; die »mythologie moderne«, die ebenso wie Bretons Definition
des Wunderbaren zugleich bestimmte Verhaltensweisen ebenso wie bestimmte Objekte und Orte
einbezieht, formuliert zugleich den Anspruch, die subjektiven Erlebnisse verbindlich, objektiv machen
zu wollen und auf die magische Grundlage allen menschlichen Handelns zurückzuführen.22
René Clair, »Paris qui dort« (1923), »Entr'acte« (1924)
In seinen »Kritischen Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films 1920-1950«23 stellt René Clair
im Rahmen der Diskussionen Mitte der zwanziger Jahre um die »Reinheit« des Films auch
Überlegungen zum Verhältnis von Poesie und Film bzw. von Surrealismus und Film an. Als Regisseur
ist für ihn die Frage nach dem »reinen« Film zugleich die Frage nach dem Kino als kommerziellem
oder Autorenkino:
»Die Frage des ›reinen Films‹ ist eng mit der Entscheidung ›Film als Kunst oder Film als Industrie‹
gekoppelt. Um aber den Film als Kunst überhaupt in Erwägung zu ziehen, müsste man zunächst
einmal genau festlegen, was man unter Kunst versteht. Ferner müssten die Entstehungsbedingungen
des Films andere werden. [...] Ein Film existiert nur auf der Leinwand.«24
Jenseits dieser für alle Filmpraktiker auf der Hand liegenden Entscheidung, die natürlich auch auf die
formale Gestaltung des Filmmaterials Einfluß nimmt, bestimmt Clair jedoch den ›reinen‹ Film als
»Poetik der Leinwand«; diese hängt von einer Reihe von Faktoren ab: Von der Wahl eines
universellen Sujets, den Verzicht auf eine (dramatische) Handlung, Arrangement und Rhythmisierung
der Bildabfolge, Präzision und Aufladung der Bildsprache, die Aufhebung des Unterschieds zwischen
Fiktion und Wirklichkeit:
»1950: Damals prägte ich Sentenzen wie: ›Vor der fotografischen Linse verlieren Werke wie
Andromaque oder die Chartreuse de Parme ihren ganzen Wert.‹ [...] Aber an der Suche nach dem
geeigneten Sujet hat sich nichts geändert, und Sujets, die allen zugänglich sind, sind nach wie vor eine
Seltenheit.
Etwas anderes ist es, wenn man unter ›reinem Film‹ eine Poetik der Leinwand versteht:
1925: [...] Nur das Bild kann Lyrik erzeugen, neuartige, schwer definierbare Lyrik. Die Blüten und
Sonnenuntergänge, mit denen gewisse Regisseure poetische Atmosphäre erzeugen zu schaffen
versuchen, sind ebensolche Klischees wie die ›edlen Streitrosse‹ und das ›nächtliche Gestirn‹
verflossener Literatur. [...] Vielleicht erzeugt eine einfache, nur durch Harmonie verbundene Bildfolge
doch eines Tages ein ähnliches Gefühl wie Musik? [...]
Fiktion oder Wirklichkeit? Auf der Leinwand sind sie dasselbe: gleitende Panoramen. [...]
Ich glaube, der Film wird sich auch die innere Welt erobern. Die Bildsprache, die präzis ist wie der
literarische Satz und schwebend wie der musikalische, eignet sich besonders zur Wiedergabe
differenzierter Empfindungen und zur Andeutung des kaum Sagbaren, und was die Masse in Freuds
Theorien oder Prousts Romanen nicht wahrhaben wollte – vielleicht offenbart es ihr der Film?«25
Ebenso wie die surrealistischen Literaten hebt Clair hier auf die emotionale Qualität der filmischen
Bildsprache, auf die Möglichkeit, das nicht Sagbare einzuführen, die Eigenlogik des Films, seinen
phantasmagorischen Charakter, die Verbindlichkeit seines Sujets, vor allem der Liebe, ab. Das
Verhältnis von Film und Surrealismus sieht er jedoch begrenzt in der Unterschiedlichkeit der Technik
und der Medialität, und den Mangel des Films als »surrealistisches Ausdrucksmittel« sieht er
kompensiert in einer gesteigerten Wirkungsästhetik:
»Ich halte den Film nicht für das tauglichste surrealistische Ausdrucksmittel. Darin, dass die beiden
sich verwandt sind, gebe ich Goudal recht, der auf den phantasmagorischen Charakter des Films und
die Abwegigkeit logischer Kommentare hinweist.
Ist der Film auch kein perfektes surrealistisches Ausdrucksmittel, so stellt er doch ein
unvergleichliches surrealistisches Betätigungsfeld für den Geist des Zuschauers dar.«26
Schließlich sieht Clair den Film als (historische) Ablösung der geschriebenen Dichtung, er sieht in ihm
eine Form der Poesie, die der Theorie der Poesie als universelle Ursprache nahe kommt:
»Aber der Surrealismus war im Gegensatz zum Film nur eine Bewegung Eingeweihter, deren
Bedeutung für die Literatur das breite Publikum nicht ermessen konnte.
1926: […] Wahrscheinlich verdankt der Film den Darstellungen der Liebe seine Popularität. [...] Man
lache mich nicht aus. Es sind nicht Mode oder Reklame, die das Gefallen des Publikums an der
optischen Illusion bestimmen. Es ist die auferstehende Dichtung. In unserer Epoche, wo die
geschriebene Poesie das Prestige verliert, das sie einst für die Massen hatte [...], wird eine neue Form
poetischen Ausdrucks geboren, das jedes Herz, das auf dieser Erde schlägt, erfassen kann.«27
»Paris qui dort«, der erste Film Clairs, nimmt surrealistische Impulse auf, behält jedoch eine
kohärente Erzählstruktur bei, auch in dem Sinne, dass mit (scheinbar realistischen) Vernetzungen der
Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit gespielt wird, etwa in dem Sinn, dass der Wächter
des Eiffelturms morgens aufwacht, den Panoramablick vom Turm auf Paris genießt und sich die
Augen reibt, als er erkennt, dass Paris völlig menschleer ist . Ebenso wird mit der kausalen
Verknüpfung verfahren: Als Ursache dafür, dass Paris zeitweise schläft, stellt sich bei einer Suche,
deren entscheidendes Indiz ein zwischen Fensterläden hängendes Tuch ist , die Experimentierfreude
eines Professors heraus. Die Präsentation des durch den Stillstand aller Betriebsamkeit magischen
Paris ist eingebettet in eine fantastische Erzählung, die mit dem Kuss eines Liebespaares, das sich auf
den mittlerweile geschlossenen Eiffelturm geflüchtet hat, schließt.
»Entr’acte« von 1924, dessen Drehbuch Francis Picabia und René Clair zusammen geschrieben
haben, war als Kurzfilm zur Begleitung für ein Ballett von Picabia gedacht, die Musik ist von Eric
Satie. Hier experimentiert Clair vor allem mit der Kamerabewegung, um ungewöhnliche optische
Effekte und Brechungen zu erzeugen. Häuser stehen auf dem Kopf, der Zuschauer, der jetzt noch
Zeuge einer Schachpartie ist, findet sich plötzlich unter einem gläsernen Bühnenboden wieder, und
sieht von unten die Drehungen einer Tänzerin, die aus dieser Perspektive wie eine Blume erscheint.
Clair arbeitet hier auch mit der Kamera eigenen, in diesem Sinne »reinen« filmischen Mitteln, etwa
mit Zeitlupe und Beschleunigung. Das eigentümliche Springen der Prozessierenden wird dabei als
Bewegungsablauf in allen Details deutlich sichtbar, vermittelt jedoch gleichzeitig den Eindruck eines
Wechsels der Wirklichkeitsebene, etwa eines somnambulen Zustands.
Im Gegensatz zu anderen avantgardistischen und dadaistisch-surrealistischen Filmen der 20er Jahre
hält Clair sehr stark an einer erzählerischen, auf den Realitätscharakter des wirklichen Lebens
ausgerichteten Struktur des Films fest, optische Experimente mit abstrakten Elementen bloß um einer
kuriosen Wahrnehmungserzeugung willen bleiben die Ausnahme.
André Breton, »Nadja« (1928)
»Nadja« zählt sicher nicht zuletzt wegen ihres »Sujets«, der amour fou, zu den wichtigsten und
einflussreichsten Arbeiten Bretons. Obwohl die Collage-Montagetechnik von Nadja es eigentlich
verbietet, eine konsistente (inhaltliche) Zusammenfassung zu geben, soll doch soviel festgehalten
werden: Der Erzähler flaniert ohne bestimmte Absichten und sich dem Zufall überlassend durch Paris,
wo ihn der Blick einer jungen Frau trifft, den er erwidert und entziffern möchte. Nadja, die sich
zunächst durch ein Höchstmaß an »liberté« und »légerté« auszeichnet und schließlich dem Wahnsinn
anheim fällt, scheint für den Erzähler in geheimnisvoller Korrespondenz mit den magischen Kräften
der Wirklichkeit in Verbindung zu stehen, sie vermittelt für einen begrenzten Zeitraum zwischen
diesen Kräften und dem Erzähler und kommt schließlich ins Irrenhaus. Eingerahmt von einem Prolog
und vier Epilogen, die sich als Rechenschaftsberichte und argumentative Beweisführung für die
Möglichkeit der (faktisch gescheiterten) surrealistischen Liebeserfahrung ausweisen, besteht »Nadja«
aus drei, jeweils mit Fotos versehenen Teilen: Die Schilderung von Begegnungen und Ereignissen, die
Traumcharakter haben (mit 16 Fotos); die in Form eines Tagebuchs präsentierten Begegnungen
zwischen dem Erzähler und Nadja (mit 13 Fotos); schließlich Zitate und Zeichnungen von Nadja (mit
13 Fotos) und Bewertungen des Erzählers seines Nadja-Erlebnisses, wobei der Ton von der Bewertung
persönlicher Erlebnisse in Gesellschaftskritik umschlägt (mit 3 Fotos).28
»Nadja« läßt sich als Einlösung der im »Surrealistischen Manifest« geübten Kritik am sogenannten
realistischen Roman lesen. Der (unterstellten) geschlossenen Fiktionalität und dem organischen,
hierarchischen Aufbau des sogenannten realistischen Romans setzt Breton im Avant-dire von 1962
ausdrücklich das »document« entgegen: Damit will sich »Nadja« als dokumentarisch, als
»Antiliteratur«29 ausweisen, in der eine Liebeserfahrung, eine amour fou, mitgeteilt wird. Aber nicht
nur das Dokumentarische, insbesondere die eingefügten Fotos, sondern auch die Nähe zur
Autobiografie (er möchte in »Nadja« die markantesten Episoden seines Lebens wiedergeben) nutzt
Breton als Authentisierungsverfahren. Aber diese Annäherung ist nur ein Gestus, der den
dokumentarisch-fiktionalen Zwittercharakter von »Nadja« bestätigt. Das erzählerische Ich, in dem sich
unschwer Breton erkennen lässt, nicht zuletzt, weil klar ist, dass es Nadja tatsächlich gegeben hat,
fungiert nicht als authentisches erlebendes Individuum wie in der Autobiografie, sondern als
theoretisches und intentional geleitetes Erlebnisdispositiv, auf das hin die erzählten Ereignisse
ausgewählt und hingeordnet sind, und dessen Ziel das Übermitteln und unmittelbare Erfahrbarmachen
einer surrealistischen Erfahrung ist. Im Unterschied zur Biografie gibt es auch keine
Entwicklungslinie, einfacher Bericht, argumentative Passagen, stehen ohne Deutung gleichwertig
nebeneinander. Dabei behält Breton jedoch eine (chronologische) erzählerische Grundmatrix bei, die
jedoch nicht durch eine Einheit stiftende Perspektive eines Erzählers zusammengehalten wird, sondern
durch ein kleinteiliges Grundmuster, dessen Struktur bereits in der Darlegung des »image« im Ersten
Surrealistischen Manifest anklang: zwei voneinander entfernte Tatsachen, Ereignisse oder Objekte
korrespondieren im nachhinein miteinander. Dabei sucht Breton entsprechend seiner Definition,
Präzision mit Geheimnishaftigkeit zu verbinden. Der Leser erfährt präzis, was dem Ich-Erzähler zu
einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort widerfahren ist, doch sind die Begebenheiten
so angelegt, dass sie rätselhaft bleiben. Dabei findet in »Nadja« die Frage nach der besonderen
Haltung, die eine Erfahrung der (nachträglichen) Korrespondenz überhaupt erst möglich macht, eine
inhaltliche Ausfüllung statt: die uneingeschränkte Offenheit, das Nichts-Besonderes-Vorhaben ist
Bedingung für das Korrespondenzerlebnis und, par excellence, für die Liebeserfahrung. Offener Blick
und Einstellung des »esprit« machen den Ich-Erzähler zu einem Suchenden, für den sämtliche
Objekte, Orte und Konstellationen, Personen plötzlich Bedeutung gewinnen können. Peter Bürger
schreibt: »Man ist versucht, die Surrealisten als Allegoriker zu bezeichnen, denen ein festes
Bezugssystem allegorischer Dichtung fehlt.«30 Mit solchen Allegorien ohne festes Bezugssystem spielt
dann Luis Bunuel, etwa in der Anfangssequenz seines der amour fou gewidmeten Films »L’age d’or«.
»Nadja« ist als frühester Collage-Montage-Roman der Avantgarde bezeichnet worden, wobei sowohl
Aragons »Le Paysan de Paris« und »Nadja«, ebenso wie die für diesen Essay ausgewählten
Filmbeispiele, eine relativ kontinuierliche erzählerische Grundmatrix beibehalten.31 Indem Breton in
»Nadja« Fotografie, Film (Breton bezieht sich auf Feuilletonromane und »serials«), Collage und
Literatur verbindet, geht er über Aragons »Le paysan de Paris« hinaus. Albersmeier legt ausgewählte
Eckpunkte für die Technik der literarischen Montage fest, wobei er die vor allem am Kubismus
orientierte literarische Collagetechnik der Montage subsummiert. Demnach setzt die Montagetechnik
einen bestimmten »point de vue« als bestimmbares Verhältnis des Erzählers zum Erzählgegenstand in
Analogie zu Kameraeinstellung–gefilmter Gegenstand voraus; das zerlegte Material muß nach
minimal dramaturgischen Gesichtspunkten neu geordnet werden; ein bestimmter Rhythmus, den
Möglichkeiten des Filmschnitts (Länge, Spiel mit dem Raum-Zeitkontinuum, Rückblenden etc.)
verwandt, muß erzeugt werden.32 Obgleich Bretons »Nadja« diesen Montagekriterien nur sehr bedingt
entspricht, ist doch das Prinzip der Brüche zwischen den zusammengestellten Materialien und
Materialfragmenten, insbesondere auf der Ebene von Text und Foto, systematisch eingesetzt. Der
Versuch, die Fotos in irgendeiner Weise zu klassifizieren oder zum Text in Beziehung zu setzen,
scheitert an der Vieldeutigkeit des Verweisungszusammenhangs. Eigene Fotos Bretons sowie Bilder
anderer Fotografen stehen nebeneinander; Fotos, die detaillierte textuelle Beschreibungen ersetzen,
stehen neben solchen, vor allem Stadtfotos, die eine besondere Magie etwa durch Menschenleere
gewinnen (mit diesem Topos arbeitet etwa René Clair in »Paris qui dort«, Blick vom Eifelturm
auf die menschenleere Stadt). Schließlich bilden die Fotos ein Repertoire an »Sujets«: Portraits von
Personen, Orte, auf die sich der Text explizit bezieht, »objets trouvés«, Kunstwerke. Neben der
Authentisierung des Erzählten entwerfen die Fotos aber auch parallel zur geheimnisvollen Gestalt
Nadjas eine »mysteriöse Topographie von Paris«.33 Vor allem mit der Größe der Einstellung der
Kamera wird hier die Magie von Orten und Objekten transportiert: So wird der Frauenhandschuh etwa
nah präsentiert, die Orte, an denen surrealistische Erfahrungen möglich sind, entfernt als Panoramen
und häufig in »flou«, sodass ihre magische Wirkung technisch unterstrichen wird.34
In der Einfügung der Fotos zeigt sich hier die Affinität des Magischen und des Bildes; offenbar ist das
Bild ein geeigneteres Medium, um Poesie, als nicht unmittelbar sprachlich kommunizierbare Realität,
zu präsentieren (s. auch René Clair). Dabei sind es weniger die Fotografien, als vielmehr die Zitate aus
der bildenden Kunst, vor allem der Malerei, die, möglicherweise gerade weil sie, wie dies Fotos
unterstellt wird, keinen dokumentarischen Charakter haben, sondern deutlich an die Subjektivität des
Schaffenden und den Schaffensprozeß zurückgebunden sind (S. auch Maya Derens subjektive
Auffassung des technischen Instruments der Kamera), die Magie in besonderem Maße offenbaren und
rezeptionsästhetisch als besonders gewichtige Schocks erlebt werden. So gibt es in »Nadja« etwa ein
Foto von Paolo Uccellos »La Profanation de L’Hostie«, auf das sich visuell und ausdrücklich auch
Jean Cocteau in seinem Film »Le sang d’un poète« (1930) bezieht. Breton verweist ausdrücklich auf
die »intentions cachées« von Uccellos Bild.35 Die zahlreichen Anspielungen auf und Transpositionen
von (surrealistischer) Malerei und Plastik in »Nadja« und im Film (etwa bei Maya Deren, »Meshes of
the Afternoon«) legen die Vermutung nahe, dass sich hier vielleicht ein besonderer »frisson«, eine
besondere Subjekt-Objekt-Korrespondenz, kristallisiert.
André Breton: »L’amour fou« (1937)
In »L’amour fou« versucht Breton die emotionale Kraft einer einzigartigen Erfahrung, der
Liebeserfahrung, zu übermitteln und in allen ihren theoretischen Implikationen auszuleuchten. Dabei
spielt die Imagination eine entscheidende Rolle, denn sie offenbart nicht nur, sie ahnt auch voraus, und
indem sie den »désir« ins Werk setzt, ist sie in der Lage, das Ereignis herbeizuführen.36
»Die ganze heutige Auffassung von der Liebe verdiente übrigens, hier näher untersucht zu werden, so
wie sie für gewöhnlich in kaum verhüllter Weise in Worten wie ›coup de foudre‹ oder ›honey moon‹
zum Ausdruck kommt. Der ganze Plunder dieser erotischen Wetterlehre mag zu allem Überfluß noch
von der schmutzigsten reaktionären Ironie gefärbt sein, ich bin diesmal nicht gesonnen, sie noch
länger aufs Korn zu nehmen. Wenn ich bedenke, was für mich sich an jenem ersten Tag ereignet hat
und wie ich bei dieser Gelegenheit nachträglich auf gewisse frühere, im übrigen höchst unerklärliche
Voraussetzungen der in Frage stehenden Ereignisse zurückkam, so scheinen mir diese Erwägungen
danach angetan, ein neues Licht zu verbreiten. Einzig und allein durch den Nachweis, wie eng diese
beiden Glieder – Wirklichkeit und Imagination – miteinander verbunden sind, hoffe ich der, wie mir
scheint, immer grundloseren Unterscheidung zwischen Subjektivem und Objektivem einen weiteren
Stoß versetzen zu können. [...] Einzig und allein aus der Betrachtung, die sich über diesen
Zusammenhang anstellen lässt, möchte ich die Frage ableiten, ob die Idee der Kausalität dabei nicht in
Trümmer geht. Einzig und allein schließlich durch die nachdrückliche Betonung der fortwährenden,
vollkommenen Koinzidenz zweier bis auf weiteres als voneinander gänzlich unabhängig geltenden
Reihen von Fakten möchte ich, immer entschiedener, das lyrische Verhalten rechtfertigen und
empfehlen, wie es jedem, ob auch nur für eine Stunde in der Liebe, sich aufdrängt, und wie es, zu allen
möglichen Zwecken der Ahnung und Deutung, der Surrealismus zu systematisieren versucht hat.«37
Wie schon in »Nadja« verknüpft Breton hier die Liebeserfahrung mit der Imagination, der Poesie, dem
»désir«, der Aufhebung der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt und kausaler
Zusammenhänge. Die Liebeserfahrung wird zum Paradigma der Strategie der Koinzidenz, die eine
bestimmte Raum-Zeiterfahrung ermöglicht, und die zugleich als persönliche Variante der alle
gesellschaftlichen Konventionen sprengende Revolte erscheint. Koinzidenzen lassen sich
lebenspraktisch und ästhetisch durch den »objektiven Zufall« herbeiführen, dessen Vor- und
Darstellung weite Teile von »L’amour fou« gewidmet sind. Dabei bedient sich Breton aller möglichen
Quellen, Aristoteles, Cournot, Poincaré, Freud und Engels, und er stellt die »Falle«, die der Umfrage
unter Freunden zu Zufall und Notwendigkeit zugrunde lag, und die er im zweiten Kapitel schildert,
unter das Vorzeichen des Verhältnisses von Objektivität und Subjektivität.38 Das besondere am
»objektiven Zufall« ist jedoch, dass er zum Prinzip der Generierung und Strukturierung einer neuen
Wirklichkeit wird: »Das zufällige Ereignis wird zum Anfang einer neuen Wirklichkeitsreihe.«39 Indem
der »objektive Zufall« scheinbar ohne Aktivität und Gestaltung des Künstlers sich außerhalb von ihm
manifestiert, wohnt ihm ein objektivierendes Moment inne. Die Trennungslinie wird verschoben: Sie
verläuft nicht zwischen der Poesie und der Wirklichkeit, sondern zwischen der Wirklichkeit und dem
bloß Ausgedachten, der Fiktion. Die Fiktion ist der Schein, während das Poetische als dasjenige, was
dem Künstler in der Kunst wie im Leben gewissermaßen von selber zufällt, in erweitertem Maße
wirklich und objektiv. Als Kriterium solcher poetischer Objektivität gilt, dass das poetische Ding mit
der äußeren Welt kommuniziert, in diesem Sinn also zu einem autonomen Subjekt wird. Poetische
Objekte und Situationen werden vom Künstler also nicht hervorgebracht, sondern nur wiedererkannt.
Ihre Faszination liegt dabei in ihrer Uneindeutigkeit: »sie sind und sind nicht die gleichen« und in der
Unmittelbarkeit des Wiedererkennens, die sie bewirken: »Der Zufall stellt magisch direkt den Kontakt
her.«40
In »L’amour fou« gibt es keine kohärente Handlung und trotz vieler Erläuterungen lässt sich auch
keine einheitliche Theorie extrapolieren. »L’amour fou« ist ebenso wie »Nadja« mit einer Reihe von
Fotos versehen.41 Vielmehr sind es Dekor und Requisiten, die handeln, Episoden um »objets trouvés«,
die von banalen in wunderbare Objekte verwandelt werden, die eigendynamisch untereinander und mit
den Menschen in Kontakt treten. Dabei ist das »objet trouvé«, das die gleiche Aufgabe erfüllt wie der
Traum gewissermaßen die Kristallisation aller Fakten und Bilder, wirklicher und geträumter
Ereignisse, die der Zufall arrangiert hat. Seine Ordnung und sein unmittelbarer Effekt hängen davon
ab, dass nichts verändert wird:
»Keine Einzelheit darf übergangen, nicht einmal ein Name verändert werden, weil sonst gleich alles
der Willkür verfällt. Damit die unverhüllte, bestürzende Irrationalität gewisser Vorkommnisse zutage
tritt, ist die strengste Authentizität des sie verzeichnenden Dokuments unerlässlich.«42
Gefunden und in Besitz genommen wird das »objet trouvé«, weil es auf ein »désir« antwortet,43 die
Beziehung zwischen Ding und findendem Subjekt hat also zunächst passionellen Charakter. Die
Entfaltung der poetischen Qualitäten des »objets trouvé« wird, wie Bretons Schilderung seines Fundes
des Holzlöffels mit dem Schuh deutlich macht, zu einer Frage der Nah- bzw. Ferneinstellung, der
Überwindung des unmittelbar sinnlichen Erlebnisses (etwa im In-der-Hand-halten des Löffels) und der
Distanzierung: »Als ich zu Hause angelangt , den Löffel auf ein Möbelstück gelegt hatte, sah ich mit
einemmal die assoziativen und interpretativen Gewalten sich seiner bemächtigen, die sich so lange
nicht gerührt hatten, wie ich ihn in Händen hielt.«44
»Objektiver Zufall« und »amour« weisen, in ihrer Konzentration auf die Koinzidenz und die
Begegnung eine analoge Zeitstruktur auf. Indem in beiden das Kausalprinzip exemplarisch außer Kraft
gesetzt wird, gehorchen sie weder einer am »Sujet« (oder einer Dramaturgie) orientierten noch einer
im engeren Sinne psychologischen Zeitstruktur.45 Eher entspricht ihre Zeitstruktur dem stets sich
erneuernden »désir«,46 als einer ewigen Gegenwart, die bestimmt ist durch die Erwartung von
Koinzidenzen und Zusammentreffen.
Der surrealistische Lebensstil entspricht dem des leidenschaftlich Liebenden. Diese ewige Gegenwart
wird auch in der formalen Anlage als praktizierte Kritik an der Zeitstruktur (fiktiver) realistischer
Romane ins Spiel gebracht. Sie rückt den surrealistischen Roman zugleich in besonderer Weise in die
Nähe des »image« und des Films, wo die Raum-Zeitstruktur noch einmal auf ganz andere Weise
zugunsten einer stets gegenwärtigen Intensität aufgehoben werden kann.
Luis Bunuel: »L’age d’or« (1930), »Terre sans pain« (1932)
Breton bezieht sich in »L’amour fou« auf Luis Bunuels Film »L’age d’or«, in dem er das Paradigma
der amour fou schlechthin sieht:
»Dieser Film bleibt bis zum heutigen Tage die einzige Veranstaltung zur Verherrlichung der totalen
Liebe, wie ich sie sehe, und die heftigen Reaktionen, die seine Vorführungen in Paris ausgelöst haben,
waren nur danach angetan, mich in dem Bewusstsein seines unvergleichlichen Wertes zu bestärken.
Niemals zuvor hat die Liebe, mit allem, was sie für zwei Menschen Ausschließliches, von der übrigen
Welt Absonderndes haben kann, sich so frei, mit solcher kühnen Gelassenheit offenbart. Die
Dummheit, die Heuchelei, die Routine, können es nicht ungeschehen machen, dass ein solches Werk
ans Licht getreten ist, dass auf der Leinwand ein Mann und eine Frau der ganzen gegen sie empörten
Welt das Schauspiel einer musterhaften Liebe aufgenötigt haben. In einer solchen Liebe liegt wohl der
Möglichkeit nach ein wahrhaftes Goldenes Zeitalter.«47
Wenn bereits »Un chien andalou« ein Film war, der mit den Ordnungsprinzipien des Traums
Wirklichkeit erzeugt, in dem von Breton geforderten Sinn als einem Ineinander von Präzision und
Unbestimmtheit, so führt er in dem Tonfilm »L’age d’or« diesen Ansatz fort und verschärft ihn noch.
Technik, Komposition, Intrige sind völlig zurückgenommen, dafür wird eine stoffliche Fülle zum
sprechen gebracht, die den Zuschauer wie magische Urerlebnisse berühren.48 »L’age d’or« lässt sich
durchaus als »gewaltsamster Befreiungsversuch, der je mit filmischen Mitteln unternommen worden
ist«49 verstehen. Er führt in einer Reihe von gewaltigen Bildern die Konfrontation einer amour fou mit
allen kulturellen Mustern vor, die sich ihr entgegenstellen und die ihr »désir« nähren, die sie aber auch
gefährdet. Dabei haben die meist nach dem Prinzip maximalen Kontrasts und maximal präzisen
Bezugs miteinander kombinierten Bilder und Szenen den Charakter einen parabelhaften, allegorischen
Charakter. »L’age d’or« wird eingeleitet durch eine mit beinah aufdringlicher Objektivität
kommentierte Dokumentaraufnahme (Nahsicht) von Skorpionen, die eine Ratte töten, bevor sie
sich gegenseitig stechen. Damit ist der emotionale Grundton, der den gesamten Film bestimmt,
angeschlagen. Anschließend sieht man an einer einsamen steinigen Küste eine Gruppe von Geistlichen
sitzen und beten; ein Mann in Lumpen schleppt sich zu einer Hütte, in der weitere Männer in größter
Armut leben. Ein Mann liegt festgebunden an einer Wand und eine Schnur windend im Sterben. Die
Überlebenden gehen zum Strand, wo ein Schiff mit Priestern, Diplomaten, Militärs anlegt, die den
Grundstein für die Ewige Stadt legen wollen. Der Film endet mit Fantasien um de Sadesche Themen:
Christus bei Ausschweifungen und Sexualorgien, dabei wird das Schloß de Sades, als Burg mit
hochgezogenen Brücken, Sodom, mit der Ewigen Stadt parallelisiert. Im letzten Bild des Films sieht
man ein mit Skalps behängtes Kreuz umstürzen. Obwohl diese Anfangs- und Schlusssequenzen nicht
im Sinne einer dramatischen Handlung einen Anfang und einen Schluß/Lösung bilden, stellen sie doch
eine Rahmung in einer Art Kreisstruktur dar, innerhalb derer ein Panorama an Bildern gezeigt wird, in
der die Liebenden mit der Kultur konfrontiert werden. Die an Land gestiegenen Honoratioren
begrüßen die inzwischen skelletierten Geistlichen. Die feierliche Einweihungsrede zur
Grundsteinlegung wird unterbrochen von einem stöhnenden Liebespaar im Schlamm, das
auseinandergerissen wird. Der Mann wird abgeführt, zertritt lustvoll einen Käfer, tritt einen Hund und
einen Blinden. Schließlich kommt er frei, weil er ein Dokument bei sich trägt, das ihn als hohen
Staatsbeamten ausweist. Die Frau ist zu ihren Eltern geführt worden, wo sie sich schließlich in die
Toilette flüchtet und zusieht, wie das Toilettenpapier abbrennt. Sie sitzt in ihrem Zimmer vor dem
Spiegel, und betrachtet sehnsuchtsvoll den Himmel und die Wolken. Bei einem offiziellen
Empfang strömen die Liebenden zueinander, werden jedoch stets durch Konversation oder
andere gesellschaftliche Konventionen davon abgehalten. Nachdem der Mann die Mutter der
Geliebten geohrfeigt hat, stehlen sie sich in den Garten, um sich zu umarmen. Sie küssen sich, sein
Gesicht wird blutig, ihres alt. Sie saugen sich gegenseitig an den Fingern. Er wird ans Telefon gerufen,
während sie geistesabwesend an den Zehen einer Statue saugt. Immer wieder wird das Liebespaar
gestört, bis der Dirigent zu ihnen hinauskommt und die Frau sich in seine Arme wirft, woraufhin der
Mann in sein Zimmer läuft und ein Daunenkissen zerfetzt. Er wirft einen Pflug, einen Baum und eine
Giraffe aus dem Fenster. Die sich auf die »Liebesgeschichte« beziehenden Sequenzen werden immer
wieder unterbrochen von Einschüben, in denen etwa ein brennendes Dienstmädchen in der Tür steht,
ein frustrierter Jäger ohne Motivation seinen kleinen Sohn niederknallt usw. Das Irrationale und
Unerklärliche, das die beiden leidenschaftlich Liebenden verkörpern, scheint in diesen Einschüben auf
der alltäglichen Ebene als stets präsent immer wieder auf. Der durch Konventionen verhinderte und
angestachelte, gelegentlich ins Gewalttätige umschlagende »désir« der beiden Liebenden erscheint als
das eigentliche Strukturprinzip des Films. Sie befinden sich außerhalb der Konventionen, sie leben nur
für ihre Begegnungen, sie erscheinen wie Träumende, wobei der irrationale Charakter ihres Begehrens
durch die Einschübe als das eigentlich Wirkliche und Authentische erscheinen. Die enorme Wirkung
von »L’age d’or« ist nicht zuletzt auf diese Umkehrung zurückzuführen.
Während Bunuel in »Un chien andalou« und »L’age d’or« den Traum als eigentliche Wirklichkeit
vorstellte, kehrt er sein Vorgehen für den Dokumentarfilm »Terre sans pain« (1932) um. Hier ist eine
vorgefundene soziale Wirklichkeit das abgefilmte Primärmaterial, das Bunuel jedoch nicht zuletzt
durch den Charakter des Off-Kommentars und die Musik so auflädt, dass das Dokumentarische die
Intensität und das Unvorstellbare des Traums erreicht. In einem Interview bestätigt Bunuel, dass ihn
der Surrealismus diese andere Wahrnehmung der Wirklichkeit, die von Breton eingeforderte
Veränderung der »sensibilité«, zu dieser surrealistischen Art der Wahrnehmung der tatsächlichen
Wirklichkeit gebracht habe.50 In der nordspanischen Provinz Las Hurdes entdeckte Bunuel eine
Volksgruppe, die in unvorstellbarer Armut und Primitivität vor sich hinvegetiert. Begleitet von einem
aufdringlich objektiven Off-Kommentar, der verbal illustriert, was die Bilder zeigen, und unterlegt mit
einer süßlich-romantischen Musik, zeigt die Kamera eine Reihe von Bildern aus dem Alltag dieser
Menschen. Sie essen unreife Kirschen, weil es sonst keine Nahrung gibt, ihre Körper sind entstellt, sie
sind geistig zurückgeblieben und hausen in Erdgrotten. Apathisch und abergläubig sind sie zu keiner
positiven Veränderung fähig. Den Biß einer Schlange reiben sie mit giftigen Kräutern ein, so dass
der Gebissene an Blutvergiftung stirbt.. Alle möglichen entstellten Gesichter werden in
Nahaufnahme gezeigt. Ein Esel fällt hin und wird von einem Bienenschwarm angefallen. Tiere
spielen, neben Krüppeln und (fetischisierten) Objekten, eine besondere Rolle bei der Erzeugung der
enormen Wirkung von Bunuels Filmen. Der unmittelbare Schock, den viele beim Anblick etwa von
Insekten verspüren, das Unbehagen, das einen beim Anblick von Krüppeln ergreift, die den Tieren
unterstellte Unschuld, wird von Bunuel gezielt eingesetzt und macht das Medium Film als ästhetisches
vergessen. Die Reduktion der Schrecken der in Las Hurdes vorgefundenen Wirklichkeit, der
Irrationalität menschlichen Handelns und der menschlichen Erfahrung auf eine betont
dokumentarische Disposition (im Kommentar, in vorgeblich »objektivem« Abfilmen der
Lebenswirklichkeit der Menschen in Las Hurdes) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch
hier die Filterung und Gestaltungskraft von Bunuels subjektivem Blick sind, die dem Film seine
außerordentliche Wirkung verleihen.
Bunuel bestätigt dies in einem Aufsatz mit dem Titel »Der Film als Instrument der Poesie«, in dem er
den Film nicht nur als »wunderbare und gefährliche Waffe« bezeichnet, die nicht individuelle, sondern
gesamtgesellschaftlich relevante, allgemeingültige Fragen spiegelt und die die Traumarbeit des
Geistes am besten imitieren kann.51 Er betont auch das Ineinander von Subjektivität und Objektivität
für den Film »als Instrument der Poesie«: »›Das Wunderbare am Phantastischen‹, hat André Breton
einmal gesagt, ›ist, dass das Phantastische nicht existiert, alles ist real.‹ Als ich vor einiger Zeit mit
Zavattini persönlich sprach, sagte ich ihm, dass ich mit dem Neorealismus nicht übereinstimme. Wir
saßen zusammen an einem Tisch und aßen, und das erste Beispiel, das mir in den Sinn kam, war das
Weinglas, aus dem ich gerade trank. Für einen Neorealisten, sagte ich, ist ein Glas ein Glas und nichts
weiter: Wir sehen, wie man es aus dem Schrank holt, es mit einem Getränk füllt, es zum Abwaschen
in die Küche bringt, wo es das Dienstmädchen zerbricht, das aus dem Haus gewiesen werden kann
oder nicht usw. Aber dieses gleiche Glas, von verschiedenen Menschen betrachtet, kann tausend
verschiedene Dinge sein, weil jeder das, was er betrachtet, mit Gefühl besetzt, und keiner es so sieht,
wie es ist, sondern wie es seine Wünsche und sein Gefühlszustand sehen wollen. Ich plädiere für ein
Kino, das mich diese Art von Gläsern sehen lässt, weil es mir eine umfassende Sicht der Realität
vermittelt, meine Kenntnis der Dinge und der Menschen vertieft und mir die wunderbare Welt des
Unbekannten eröffnet.«52
Maya Deren, »At Land« (1944), »Ritual in Transfigured Time« (1946)
Maya Derens Beziehung zur surrealistischen Bildersprache ist ambivalent; ihre Filme, insbesondere
diejenigen, die sie zusammen mit dem tschechischen Experimentalfilmer Alexander Hammid drehte,
erinnern in Bildkomposition und -struktur stark an Filme im Umkreis des Surrealismus. Jonas Mekas
bemerkt dazu: »It was always a very sensitive subject with Maya: the surrealists, the twenties. Any
reference, in the press, or in real life discussions, to her work as containing elements of surrealism
made Maya mad.«53
Mekas weist aber auch darauf hin, dass für ihn und die neue Generation von Filmemachern, Derens
Filme viel mit der Fortsetzung des (französischen) Films der 20er und 30er Jahre, mit Symbolismus,
Surrealismus, klassischen ästhetischen Werten zu tun hat. Derens eigene Filme und vor allem ihre
zahlreichen Äußerungen zum Film, lassen eher an einen Anschluß an die Überlegungen zum »reinen
Film«, als Reflexion auf die dem Medium eigenen Möglichkeiten, durchsetzt mit zahlreichen
Reminiszenzen an »poésie pratique« und dokumentarische Dispositive denken. Das deutlichste
Bekenntnis zum Surrealismus findet sich in einem Kommentar Derens zu »Witch’s Craddle«, einem
Film, den sie in Peggy Guggenheims Galerie Art of This Century drehte: »Dieser Film, der nie
vollendet wurde, war von der architektonischen Struktur, den Gemälden und Objekten der Galerie
inspiriert. Ich hatte den Eindruck, dass surrealistische Objekte die kabbalistischen Symbole des 20.
Jahrhunderts seien, weil die surrealistischen Künstler wie die Hexen und Magier im Feudalismus von
dem Wunsch besessen waren, mit den wirklichen Kräften, die Ereignissen zugrunde liegen, zu
arbeiten [...], und die Gültigkeit oberflächlicher und offensichtlicher Kausalität in Frage zu stellen. Die
Magier befassten sich auch unter Missachtung der normalen Zeit hauptsächlich mit Projektionen in die
Vergangenheit und Weissagungen der Zukunft und unter Missachtung des normalen Raums mit dem
Verschwinden eines Ortes und dem Auftauchen eines anderen [...]. Dasselbe machten auch die
surrealistischen Maler und Poeten. Und mir schien, dass die Kamera besonders geeignet war, diese
Form der Magie zu beschreiben.«54
Eingebettet sind Derens Überlegungen zum Film in eine genaue Reflexion auf das Medium und seine
Bedingungen, insbesondere auf die Subjekt-Objekt-Problematik und die Referentialität. Wie Clair
sieht sie das Filmemachen in Verbindung mit dem gesamten (materiellen, finanziellen, personellen)
Produktionsapparat, wie er spricht sie vom Film als Kunst, der im scheinbaren Gegensatzpaar von
unterhaltendem Spielfilm und pädagogischem Dokumentarfilm noch fehlt. Einen Grund für das Fehlen
einer genuin »kinematographischen Form«55 sieht sie in der Beurteilung der Kamera als per se
objektivem, einen verlängerten Blick darstellenden Abbildungsapparat zur Aufzeichnung und
Wiedergabe von inszeniertem und dokumentarischem Material: »Die mechanische Ähnlichkeit
zwischen Linse und Auge ist weitgehend dafür verantwortlich, dass die Kamera immer eher als
aufzeichnendes denn als kreatives Gerät benutzt wird [...]. Jedoch erst im Gehirn, hinter dem Auge,
erhält das aufgezeichnete Material seine Bedeutung und Wirksamkeit. Im Film wurde diese
Erweiterung oft übersehen. Die Bedeutung eines Ereignisses oder einer Erfahrung wird der
Wirklichkeit vor der Linse zugeschrieben, anstatt dem kreativen Akt des Mechanismus’
(einschließlich des Menschen) hinter der Linse.«56 Und sie polemisiert: »Der Dokumentarfilm ist die
visuelle Entsprechung zur Reportage und hat das gleiche Verhältnis zur Filmkunst wie der
Korrespondentenbericht zur Dichtkunst.«57 Ebenso wie Bunuel weist Deren darauf hin, dass das
eigentliche Interesse am Filmen in der Präsentation der subjektiven Erfahrung einer Wirklichkeit,
seiner Qualität als Poesie, erscheint, und dass es die Unterscheidung zwischen dokumentarisch und
fiktiv (verstanden als Gegensatzpaar objektiv bloß subjektiv) nicht gibt: »Wichtig ist jedoch, dass sich
die beschreibende Äußerung der schöpferischen Äußerung annähert, insofern sie [...] eher der
Erfahrung von Wirklichkeit als der Wirklichkeit selbst verpflichtet ist.«58 Und sie geht noch weiter,
indem sie die Darstellung der erfahrenen Wirklichkeit im Film einen Realitätsgrad gewinnen sieht, der
noch das Absurdeste authentisch macht: »die Wirklichkeit des Erlebens [ist] eben genau das
Verführerische am Kino [...], denn Film kann auf einzigartige Weise das Unglaubliche so überzeugend
darstellen, dass es als ›Selbst-Gesehenes‹ erscheint.«59 Dies setzt jedoch eine offene Haltung des
Zuschauers voraus, eine »absichtslose Rezeption, die die Erfahrung neuer Wirklichkeit zulässt.«60
Hiermit ist, in Analogie zur Liebeserfahrung übrigens, der wirkungsästhetische Horizont von Film als
Kunst angesprochen: erst kommt die unmittelbare Erfahrung, dann – möglicherweise – die Analyse.
Derens Reflexionen münden in ihre Definition des Films, die deutlich an ihre Anmerkung zu »Witch’s
Craddle« anschließt: »Film – und darunter wird das ganze Ensemble von Techniken, einschließlich
Kamera, Beleuchtung, Schauspielerei, Montage verstanden – ist eine Zeit-Raum-Kunst, die auf
einzigartige Weise neue zeit-räumliche Verhältnisse schaffen und diese unbestreitbar mit der Wirkung
von Realität projizieren kann – mit der Realität des ›Selbst-Gesehenen‹«.61 Die einzelnen filmischen
Elemente sind funktional und relational bestimmt, es geht um die Herstellung einer »Dynamik«, die
»ein instabiles Gleichgewicht aufrechterhält«.62 Dies impliziert auch die Absage an eine »realistische«,
lineare, durch Kohärenz und Dramaturgie bestimmte Erzählform – im Idealfall sollen Derens Filme
wie ihre Texte anagrammatisch funktionieren.
Derens Überlegungen zum Verhältnis des Realen und des Fiktiven/Objektiven und Subjektiven gehen
aus von Reflexionen auf das Charakteristische des fotografischen Bildes im Unterschied etwa zum
Gemälde. Der Dokumentarfilm etwa arbeitet mit dieser »Autorität des Realen«, der dem Foto
innewohnt: »Als ein Stück Realität tritt uns das photographische Bild mit der unschuldigen Arroganz
eines objektiven Faktums gegenüber, das unabhängig von uns und unbeeindruckt von unserer
Reaktion für sich existiert. Wir können es auch unsererseits mit einer Gleichgültigkeit und Distanz
betrachten, wie wir sie gegenüber von Menschenhand geschaffenen Bildern der anderen Künste nicht
aufbringen.; denn sie laden zur Betrachtung ein, fordern und brauchen unsere Reaktion, damit die
Kommunikation stattfindet, die sie in Gang setzen und die ihre Existenzberechtigung bildet.
Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass unsere persönliche Unbetroffenheit den Wahrheitswert des
photographischen Bildes nicht beeinträchtigt, und gerade deshalb besitzt es eine Autorität, deren
Gewicht nur noch mit dem der Autorität des Realen selbst zu vergleichen ist. Auf dieser Autorität ist
die gesamte Schule des sozialen Dokumentarfilms gegründet.«63 Was die unvergleichliche »Autorität
des Realen« des fotografischen Bildes hervorbringt, ist also seine Neutralität: Zunächst die Neutralität
des fotografischen Verfahrens, »durch das ein Gegenstand mit Hilfe von Licht oder lichtempfindlichen
Material sein eigenes Bild produziert«64 und das den Fotografen als Gestalter ausklammert, auf der
Ebene der Rezeption die Neutralität des Betrachters, der in der wirklichkeitsgetreuen fotografischen
Abbildung ein Äquivalent (keine Metapher) der Realität, ein von ihm unabhängiges Faktum, sieht.
Zwar weist Deren darauf hin, dass die Dokumentaristen subjektiv und intentional das wirkungsvollste
Stück Realität auswählen und eine Ansicht wählen, die die gewünschte Wirkungsästhetik unterstützt,
sich zugleich aber auf eine maximale Neutralität zurückziehen, um die »Autorität des Realen« im
Sinne ihres Interesses voll einsetzen zu können. Sie weist, vor allem unter dem Eindruck des Krieges,
darauf hin, dass der Dokumentarfilm interessegeleitet und sujetgebunden ist.
Mit dem »kontrollierten Zufall« hat Maya Deren nun eine Strategie gefunden, die es erlaubt, durch
geschickte Manipulation die »Autorität des Realen« auf fiktive Konstruktionen übergehen zu lassen.
Dies geschieht über die richtige Wahl des Ortes, und einer Kadrierung, in der geplante und zufällige
Größen in der Intention der Szene aufgehen: »Unter ›kontrolliertem Zufall‹ verstehe ich das Einhalten
eines empfindlichen Gleichgewichts zwischen dem, was spontan und natürlich gegeben ist, um von
der unabhängigen Existenz des Tatsächlichen zu zeugen, und den Personen und Begebenheiten, die
absichtlich in Szene gesetzt werden. [...] Das fiktionale Ereignis, das dann abläuft, ist zwar selbst
künstlerischer Art, borgt sich jedoch Realität von der realen Szenerie.«65
Für Deren ist der Film eine maximale Ausnutzung des fotografischen Dispositivs, dem der Film als
Zeitmedium spezifische Seiten abgewinnen kann: »Nur dem Film als einem photographischen
Medium ist diese Form des schöpferischen Eingriffs gegeben. Wenn er auf Kondensierung und
Dehnung, Trennung und Kontinuität zielt, so nutzt er die verschiedenen Attribute des
photographischen Bildes bis zum Anschlag aus: seine Wirklichkeitstreue (durch die die Identität der
Person gewährleistet ist, die als durchgehende, einende Kraft die verschiedenen Zeiten und Orte
durchzieht); seine Realität (die Grundlage des Wiedererkennens, die unsere Kenntnisse und Werte
aktiviert und ohne die keine geographische Plazierung und Deplazierung möglich wäre); und seine
Autorität (die die Unpersönlichkeit und Unangreifbarkeit des Bildes transzendiert und ihm eine
unabhängige und objektive Konsequenz verleiht).«66 Auf dieser Grundlage, innerhalb dieses auf
Wiedererkennbarkeit und menschliche Rhythmen gegründeten Rezeptionsgefüges, stellt der Film eine
autonome Realität dar, deren Ausgangspunkte die Kamerabilder sind, die durch die Montage in ihrer
Funktion und in ihrer Bedeutung zu einem neuen, nicht in andere Medien übersetzbaren, Raum-
Zeitstruktur zusammengefügt werden. Film als Kunst zielt auf »totale Erfahrung« , in der die Reinheit
der medialen Mittel im Hinblick auf Bildmaterial und Verknüpfung, das schöpferische Individuum
und die »Autorität der Realität« koinzidieren. In diesem (begrenzten) Sinn zielt er auf »Surrealität«:
»Wenn der Film seinen Platz als ausgewachsene Kunstform neben den anderen Künsten einnehmen
soll, dann muß er aufhören, nur Reales aufzuzeichnen [...]: Stattdessen muß er eine totale Erfahrung
schaffen, die dem eigentlichen Wesen dieser Kunstform so sehr entspringt, dass sie von seinen Mitteln
nicht mehr zu trennen ist.«67
Derens Filme leben vor allem von ihrer expressiven Seite, von ihrem speziellen, schwebenden Ton,
der eine Art von gleichbleibender Spannung darstellt, die die Filme, jeden für sich, und alle
untereinander, zusammenhält. Anläßlich von »At Land« (1944) weist Deren darauf hin, dass sie
visuelle Tricks lediglich anwendet, um emotionale Effekte zu erzeugen oder hervorzuheben.68 »At
Land« hat Deren als eine »umgekehrte Odyssee« bezeichnet,69 in der nicht mehr der Reisende
derjenige ist, der sich bewegt, sondern die Protagonistin (wie stets: Maya Deren selbst), als an Land
gespültes Meereswesen, zahlreichen Veränderungen einer fremden Außenwelt ausgesetzt ist. Das
Meereswesen klettert durch Felsen und Gezweig, robbt über einen Tisch, an dem eine trinkende
Gesellschaft sitzt, die sie nicht bemerkt, trifft einen Mann, der, sie eine Weile begleitend, stets das
Gesicht wechselt, kommt in ein Zimmer, wo eine anderer Mann liegt, der tot zu sein scheint, doch
dessen Augen ihr folgen. Schließlich kehrt sie zum Strand zurück, trifft ein paar Frauen, und entfernt
sich den Strand entlang wandernd. Mit einem technischen Trick, der Suggestion von Kontinuität durch
feste Kameraeinstellung, festen Blickwinkel, der dem des Zuschauers entspricht, und der Kombination
von Orten, die in dieser Konstellation so nicht verbunden sein können, erzeugt Deren eine eigenartige
Zeitenthobenheit, die Grundstimmung und von ihr getragenes Sujet noch steigert: »diese eigenartige
Entwurzelung des Individuums in einer relativistischen Welt und der Unfähigkeit dieses Individuums,
mit dem Fluß der Dinge Schritt zu halten oder ein stabiles, angepasstes Verhältnis zu den Elementen
dieser Welt zustande zu bringen.«70
In »Ritual in Transfigured Time« (1946) verbindet Deren die Idee des »Rituals« mit einer
Choreographie (in »A Study in Choreography for the Camera« hatte Deren bereits versucht, einen
Tanzfilm zu drehen, in dem der Raum, wie ein »objet trouvé«, durch Kamera und Schnitt ebenfalls
zum Tanzen gebracht wurde, den Raum also zum Subjekt gemacht hatte, so dass zwischen Tänzer und
Raum ein Duett entstand) und dem Kompositionsprinzip der Fuge. Das Interesse am Ritual, das Deren
später auch zum ethnographischen Film führte, geht auf den überindividuellen, verbindlichen
Charakter zurück, der ihm zugeschrieben wird: »Die Intentionen einer solchen Depersonalisierung [im
Ritual, d.Vf.] besteht nicht in der Zerstörung des Individuums; im Gegenteil, sie übersteigt die
Dimension des Persönlichen und befreit das Individuum aus den Besonderheiten und Begrenzungen
seiner ›Persönlichkeit‹«.71 Zugleich wird das Ritual zum Emblem von Derens vor allem der
Dichtungstheorie des französischen Symbolismus verpflichteten Filmideals: »Ein Ritual ist
klassizistischer Natur. Seine Elemente sind so aufeinander bezogen und werden so kombiniert, dass
sie dynamisch aufeinander wirken können, um so eine Form hervorzubringen, welche die Elemente
der Reihe nach wieder neu erzeugt, neu definiert und wieder neu bewertet.«72 Bezeichnenderweise
rückt Deren dieses Ideal in die Nähe naturwissenschaftlicher Verfahren., womit sie einerseits den
Anspruch der (auf Neutralität) gegründeten Objektivität des Films, zugleich aber auch seinen
Experimentcharakter betont. Auch die Choreographie steht im Dienste einer Objektivierung durch
Depersonalisierung, indem eine »emotionale Geschlossenheit der Bewegung«73 gewissermaßen alles,
Schauspieler, Raum, Requisiten, zusammenhält. Am auffälligsten wirkt dies in der Partyszene, wo die
Gäste von einer allgemeinen Bewegtheit gewissermaßen kontaminiert zu sein scheinen, die Haltung
und Gestik zu einer eine traumartige, maschinenhaftes Handeln suggerierende Atmosphäre
verschaffenden Autonomie verhelfen.
»Ritual in Transfigured Time« ist auch ein Beispiel dafür, wie Deren, in deren Filmen ja das
gesprochene Wort fehlt, die Musik, insbesondere klassische Musik, einsetzt und deren
Stimmungswerte für die Generierung der visuellen Filmdynamik ausnutzt. Fuge und Kontrapunkt
ausnutzend, dient die Musik hier gewissermaßen stets wieder als Ouvertüre für die je folgenden
visuellen Bedeutungsebenen, bis es schließlich zu einer vollkommenen Übereinstimmung kommt.74
Deren beschreibt die drei Ebenen des Films; zunächst die Ebene des Geschehens (ein junger Mann
kommt auf eine Party, er sieht sofort ein Mädchen, das ihn interessiert, er wird abgelenkt und
aufgehalten durch Konversation, er bleibt auf das Mädchen fixiert, ohne jedoch eine Beziehung
anknüpfen zu können, schließlich verlässt jeder allein die Party. Kontrapunktisch setzt Deren hier
individuelles Begehren und gesellschaftliche Konvention, individuelle und Gruppenmuster
gegeneinander. Getragen werden diese Ideen von Bewegungen, kollektiven und individuellen, die
miteinander korrespondieren, gegeneinander gesetzt werden usw. Der Ton dieser ersten Ebene ist der
einer Party, oberflächlich, fröhlich. Die gesamte Inszenierung verweist dabei jedoch bereits auf die
zweite Ebene, die überindividuell ist: »War der Rastlose, der auf die Party kam, nicht auf der Suche
nach einer Frau, bei der er die ideale Liebe finden würde? [...] Unterhalb jener fröhlichen
Beschwingtheit gab es Liebe und Schmerz.«75 Die Choreographie der Bewegungen gewinnt hier an
Intensität, der im pas de deux ausgetragene Flirt wird zur Leidenschaft. Dem setzt Deren nun
kontrapunktisch den Stimmungswert der Musik entgegen, die disziplinierend, »im rituellen Sinne
manchmal magisch und im klassischen Sinne manchmal abstrakt ist.«76 Über die Musik wird zur
dritten Ebene hingeführt, zu einem »rituellen Muster, oder mehr eine Darstellung menschlicher
Bedingungen des Suchens [...], vielleicht geht es mehr um die Liebe als um das Gewinnen der
Geliebten.«77 Die Einführung dieser Ebene lässt wiederum die Geste der Frau in einem anderen Licht
erscheinen: »Es ist wahr, dass die Frau als Person verloren wurde; aber die Idee der Hingabe und des
Begehrens wurde erhalten. Er war gekommen, um zu suchen; er hatte mehr sich selbst gefunden.«78



1 André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Hamburg 1990, 21.
2 Breton 1990, 11.
3 Breton 1990, 16.
4 Breton 1990, 18.
5 Breton 1990, 18.
6 Breton 1990, 13.
7 Breton 1990, 19.
8 Breton 1990, 20.
9 Breton 1990, 20f.
10 Breton 1990, 21.
11 Breton 1990, 22.
12 aus Reverdy, in: Nord-Sud, 1918.xx, S. 23.
13 Reverdy 1918, 23.
14 Vgl. dazu Christof Decker, Die ambivalente Macht des Films. Trier, 1995, S. 24ff.
15 Decker 1995, 27.
16 Decker 1995, 27.
17 Breton, 1990, 11.
18 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Hg. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1969, 37.
19 Louis Aragon, Le Paysan de Paris, Paris 1966, 110.
20 Aragon 1966, 81; vgl. Peter Bürger, Der französische Surrealismus, Frankfurt a. M. 1996,
106.
21 Benjamin, 1969, 109.
22 Vgl. dazu auch Bürger, 1996, 101ff., zum Einfluß des Films auf »Le paysan de Paris« als
»audiovisuelles Szenario« auch Franz-Josef Albersmeier, Theater, Film und Literatur in
Frankreich, Darmstadt 1992, 129-137.
23 René Clair, Kino. Vom Stummfilm zum Tonfilm (Kritische Notizen zur
Entwicklungsgeschichte des Films 1920–1950), Zürich 1994.
24 Clair 1994, 76f.
25 Clair 1994, 78f.
26 Clair 1994, 80.
27 Clair 1994, 80.
28 Vgl. dazu: Albersmeier, 1992, 141; Anzahl und Anordnung der Fotos ändert sich von der
Erstausgabe 1928 mit 44 Fotos bis zur letzten Ausgabe 1964 mit 48 Fotos.
29 Bürger, 1996, 120.
30 Bürger, 1996, 128.
31 Vgl. Albersmeier, 1992, 149.
32 Vgl. Albersmeier, 1992, 141.
33 Albersmeier, 1992, 145.
34 Vgl. Albersmeier, 1992, 144f.
35 Vgl. Albersmeier, 1992, 145.
36 Vgl. Marie-Thérèse Ligot, L’amour fou, Paris 1996, 112f.
37 André Breton, L’amour fou, München 1970, 44f.
38 Zum schwierigen Verhältnis Freud und Breton bzw. Surrealismus vgl. Bürger, 1996, 84-
100.
39 Elisabeth Lenk, Der springende Narziss, München 1971, 175.
40 Ebd., 175 und 176.
41 Vgl. dazu Ligot, 1996, 98ff.
42 Breton, 1970, 34.
43 Breton, 1970, 27.
44 Breton, 1970, 27f.
45 Vgl. dazu Paule Plouvier, Poétique de l’Amour chez André Breton, Paris 1983, 123ff.
46 Vgl. Breton, 1970, 13.
47 Breton, 1970, 68.
48 Vgl. dazu auch Peter Weiss, Avantgarde Film, Frankfurt a. M. 1995, 40ff.
49 Weiss 1995, 49.
50 Vgl. Interview mit Luis Bunuel in: Sight and Sound, London, vol. 24, Nr. 4, Frühjahr 1955.
51 Luis Bunuel, »Der Film als Instrument der Poesie«, in: ders.: Die Flecken der Giraffe,
Berlin 1991, 144.
52 Bunuel 1991, 148.
53 Jonas Mekas, »A few notes on Maya Deren«, in: Hg. Shelley Rice, Inverted Odysseys, New
York 1999/2000, 131.
54 Maya Deren, Poetik des Films, Berlin 1984, 58f.
55 Maya Deren, »Film als Kunstform«, in: Choreographie für eine Kamera, Schriften zum
Film, Hamburg 1995, 33.
56 Deren 1995, 40.
57 Deren 1995, 41.
58 Deren 1995, 36.
59 Deren 1995, 36
60 Deren 1995, 38.
61 Deren 1995, 44.
62 Deren 1995, 45.
63 Deren, Kamera-Arbeit: Der schöpferische Umgang mit der Realität, in: Deren, 1995, 58.
64 Deren 1995, 55.
65 Deren 1995.
66 Deren 1995, 68.
67 Deren 1995, 70.
68 Maya Deren, At Land, in: Poetik des Films, Berlin 1984, 59.
69 Deren, 1995, 68.
70 Deren, 1984, 59.
71 Deren, Notizen zu »Ritual und Qual«, in Deren, 1984, 76.
72 Deren 1984, 76.
73 Deren, »Ritual in Transfigured Time«, in: Deren, 1984, 67.
74 Deren 1984, 73.
75 Deren 1984, 73.
76 Deren 1984, 73.
77 Deren 1984, 74.
78 Deren 1984, 75.