Hinweis: Wenn Sie diesen Text sehen, benutzen Sie einen Browser, der nicht die gängigen Web-Standards unterstützt. Deshalb wird das Design von Medien Kunst Netz nicht korrekt dargestellt. Die Inhalte selbst sind dennoch abrufbar. Für größtmöglichen Komfort und volle Funktionalität verwenden Sie bitte die empfohlenen Browser.
Deutsch English

Guy Debord
»Rapport über die Konstruktion von Situationen«

[Auszug]

[...]

Auf dem Weg zu einer Situationistischen Internationale

Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen – d. h. der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft. Wir müssen eine geordnete Intervention in die komplizierten Faktoren zweier großer, sich ständig gegenseitig beeinflussender Komponenten durchführen: die materielle Szenerie des Lebens und die Verhaltensweisen, die sie hervorbringt und durch die sie erschüttert wird.

In ihrer letzten Entwicklungsstufe führen unsere Perspektiven einer Einwirkung auf die Szenerie zur Konzeption eines unitären Urbanismus. Der unitäre Urbanismus läßt sich erstens durch die Anwendung der gesamten Kunstrichtungen und Techniken als Mittel definieren, die zu einer vollständigen Umweltanordnung zusammenwirken. Diese Gesamtheit muß als unendlich breiter betrachtet werden als die alte Herrschaft der Architektur über die traditionellen Kunstrichtungen oder die gegenwärtige gelegentliche Anwendung von spezialisierten Techniken oder wissenschaftlichen Untersuchungen wie z B der Ökologie auf den anarchischen Urbanismus. Der unitäre Urbanismus wird z B sowohl die klangliche Umwelt als auch die Verteilung der verschiedenen Getränke oder Essensarten beherrschen können. Er wird das Erfinden von neuen Formen und die Zweckentfremdung der bekannten Formen der Architektur und des Urbanismus umfassen – und gleichfalls die Zweckentfremdung der alten Poesie und des alten Films. Die integrale Kunst, von der so viel gesprochen wurde, konnte nur auf der Ebene des Urbanismus verwirklicht werden. Sie konnte allerdings keiner der traditionellen Definitionen der Ästhetik mehr entsprechen. In jeder seiner experimentellen Städte wird der unitäre Urbanismus durch eine bestimmte Anzahl von Kraftfeldern wirken, die wir vorübergehend durch das klassische Wort »Viertel« bezeichnen können Jedes Viertel wird eine genaue Harmonie anstreben, die gleichzeitig mit den benachbarten Harmonien bricht; oder es wird mit einem maximalen Bruch der inneren Harmonie spielen.

Zweitens ist der unitäre Urbanismus dynamisch, d. h. er steht in einem engen Zusammenhang mit Verhaltensstilen. Nicht das Haus ist das kleinste Element des unitären Urbanismus, sondern der architektonische Komplex, der aus der Zusammenstellung aller Faktoren besteht, die eine Stimmung oder eine Folge aufeinanderstoßender Stimmungen im Maßstab der konstruierten Situation bedingen. Die räumliche Entwicklung muß die Gefühlswirklichkeiten berücksichtigen, die durch die experimentelle Stadt bestimmt werden. Einer unserer Genossen hat eine Theorie der »Stimmungsviertel« hervorgebracht, nach der jedes Stadtviertel die Erzeugung eines einfachen Gefühls anstreben sollte, dem sich das Subjekt wissentlich aussetzt. Anscheinend zieht ein solches Projekt aus einer Entwertungsbewegung der zufälligen primären Gefühle angebrachte Schlußfolgerungen und seine Durchführung kann zur Beschleunigung dieser Bewegung beitragen. Die Genossen, die eine neue, freie Architektur fordern, müssen verstehen, daß sie in erster Linie nicht mit Linien und freien poetischen Formen – in dem Sinne, in dem diese Worte heute von denen gebraucht werden, die sich auf eine Malerei der »lyrischen Abstraktion« berufen – spielen wird, sondern vielmehr mit den Stimmungseffekten von Zimmern, Gängen, Straßen usw., wobei die Stimmung mit den in ihr enthaltenen Gesten verbunden ist. Der Fortschritt der Architektur sollte vielmehr in der Herstellung von aufregenden Situationen als in der von aufregenden Formen liegen; und die Experimente, die sie mit diesem Gegenstand anstellt, werden zu unbekannten Formen führen. Somit bekommt also die psychogeographische Forschung – die »Forschung nach den genauen Gesetzen und Wirkungen der bewußt oder unbewußt eingerichteten geographischen Umwelt, die direkt das Gefühlsverhalten der Individuen beeinflusst« – ihren doppelten Sinn als tätige Beobachtung der heutigen Stadtbilder und Erstellung von Hypothesen über die Struktur einer situationistischen Stadt. Der Fortschritt der Psychogeographie hängt in weiterem Maße von der statistischen Erweiterung ihrer Beobachtungsmethoden ab, vor allem aber von den Experimenten mit konkreten Interventionen in den Urbanismus. Bis zu dieser Entwicklungsstufe kann man der objektiven Wahrheit der ersten psychogeographischen Angaben nicht sicher sein Wenn diese Angaben aber auch falsch sein sollten, so wären sie bestimmt die falschen Lösungen eines wirklichen Problems.

Unsere Einwirkung auf das Verhalten, die in Verbindung mit den anderen, wünschenswerten Aspekten einer Revolution der Lebensgewohnheiten steht, kann knapp durch die Erfindung von Spielen neuer Art definiert werden. Das allgemeinste Ziel muß die Erweiterung des nicht mittelmäßigen Teils des Lebens einerseits und die möglichst weitgehende Verringerung der leeren Augenblicke andererseits sein. Man kann unsere Einwirkung auf das Verhalten also als das Unternehmen einer quantitativen Steigerung des menschlichen Lebens ansehen, das ernst zunehmender ist als die zur Zeit erforschten biologischen Verfahren. Dadurch hat sie eine qualitative Steigerung zu Folge, deren weitere Entwicklungsmöglichkeiten nicht vorauszusehen sind. Das situationistische Spiel unterscheidet sich von der klassischen Spielauffassung durch die radikale Verneinung der Charakterzüge des Wettkampfes und der Trennung vom gewöhnlichen Leben. Dagegen habt sich das situationistische Spiel gegenüber einer moralischen Wahl nicht als unterschiedlich hervor, die eigentlich eine Parteinahme für das ist, was das zukünftige Reich der Freiheit und des Spiels sichert. Offensichtlich ist das, auf der Ebene der Produktivkräfte, zu der unsere Epoche gelangt, mit der Gewißheit einer ständigen und schnellen Zunahme der Freizeit verbunden. Es ist gleichzeitig mit der Anerkennung der Tatsache verbunden, daß vor unseren Augen ein Kampf um die Freizeit geführt wird, dessen Bedeutung für den Klassenkampf nicht genügend analysiert wurde. Heute gelingt es der herrschenden Klasse die Freizeit zu benutzen, die das revolutionäre Proletariat ihr abgerungen hat, indem sie einen breiten industriellen Freizeitsektor entwickelt, der ein unübertreffliches Werkzeug zur Verdummung des Proletariats durch Subprodukte der mystifizieren den Ideologie und der bürgerlichen Geschmacksrichtungen darstellt. Wahrscheinlich muß in diesem Überfluß an Fernsehgemeinheiten nach einem der Gründe für die Unfähigkeit der amerikanischen Arbeiterklasse gesucht werden, sich zu politisieren. Indem das Proletariat sich durch seinen kollektiven Druck eine leichte Erhöhung des Preises für seine Arbeit über das Minimum hinaus erkämpft, das zur Produktion dieser Arbeit notwendig ist, erweitert es nicht nur seine Kampffähigkeit, sondern auch das Schlachtfeld. Neue Formen dieses Kampfes erscheinen dann parallel zu den direkt ökonomischen und politischen Konflikten. Man kann sagen, daß die revolutionäre Propaganda bisher ständig in diesen Kampfformen in allen Ländern vorherrschend war, in denen die fortgeschrittene industrielle Entwicklung sie einführt. Einige Erfahrungen des 20. Jahrhunderts haben leider bewiesen, daß die notwendige Veränderung des Unterbaus durch Fehler und Schwächen auf der Ebene des Überbaus verzögert werden kann. Neue Kräfte müssen in den Kampf um die Freizeit geworfen werden und wir werden uns in ihm behaupten.

Der anfängliche Versuch einer neuen Verhaltensweise ist schon mit dem erreicht worden, was wir das Umherschweifen genannt haben und zwar zugleich die Praxis einer Entfremdung auf dem Gebiet der Leidenschaften durch eine eilige Veränderung der Stimmungen und ein Mittel zur Erforschung der Psychogeographie und der situationistischen Psychologie. Aber die Anwesenheit dieses Willens zur spielerischen Schöpfung muß auf alle bekannten Formen der menschlichen Beziehungen erweitert werden und z.B. die geschichtliche Entwicklung von Gefühlen wie Freundschaft und Liebe beeinflussen. Alles deutet auf die Annahme hin, daß es sich mit der Hypothese der Konstruktion von Situationen um den wesentlichen Teil unserer Forschung handelt.

Das Leben eines Menschen besteht aus einer Folge von zufälligen Situationen und wenn auch keine einer anderen genau gleicht, so sind zumindest diese Situationen in ihrer größten Mehrheit so undifferenziert und farblos, daß sie vollkommen den Eindruck der Gleichheit geben. Aus dieser Lage folgt, daß die seltenen, packenden Situationen, die man erleben kann, dieses Leben zurückhalten und streng begrenzen. Wir müssen versuchen, Situationen zu konstruieren, d. h kollektive Stimmungen, eine Gesamtheit von Eindrücken, die die Qualität eines Augenblicks bestimmen. Wenn wir das einfache Beispiel der Zusammenkunft einer Gruppe von Individuen für eine bestimmte Zeit annehmen, sollte man erforschen – unter Berücksichtigung der Kenntnisse und der materiellen Mittel, die uns zur Verfügung stehen -, welche Organisation des Ortes, welche Auswahl der Beteiligten und welche Provokation von Ereignissen der gewünschten Stimmung entsprechen. Sicherlich werden sich die Möglichkeiten einer Situation sowohl zeitlich wie räumlich zusammen mit der Durchführung des unitären Urbanismus oder der Erziehung einer situationistischen Generation beträchtlich erweitern. Die Konstruktion von Situationen beginnt mit dem modernen Zusammenbruch des Begriffs des Spektakels. Es ist leicht zu sehen, wie sehr gerade das Prinzip des Spektakels – die Nicht-Einmischung – mit der Entfremdung der alten Welt verknüpft ist. Umgekehrt sieht man, wie die gültigsten revolutionären Forschungen auf dem Gebiet der Kultur versucht haben, die psychologische Identifizierung des Zuschauers mit dem Helden zu brechen, um ihn zur Tätigkeit zu bringen, indem seine Fähigkeiten, sein eigenes Leben umzugestalten, herausgefordert werden. So ist die Situation dazu bestimmt, von ihren Konstrukteuren erlebt zu werden. In ihr soll die Rolle des – wenn nicht passiven, so doch zumindest als bloßer Statist anwesenden – »Publikums« ständig verringert werden, während der Anteil derer zunehmen wird, die zwar nicht Schauspieler, aber in einem neuen Sinn des Wortes Lebemänner genannt werden können. Man muß sozusagen die poetischen Gegenstände und Subjekte vervielfachen, die zur Zeit leider so selten sind, daß schon die kleinsten eine übertriebene Bedeutung bekommen; man muß weiter die Spiele dieser poetischen Subjekte mitten in diesen poetischen Gegenständen organisieren. Das ist unser ganzes Programm, das wesentlich ein Übergangsprogramm ist. Unsere Situationen werden ohne Zukunft – Durchgangsorte sein. Die Unwandelbarkeit der Kunst – oder irgendetwas anderen – hat keinen Platz in unseren Erwägungen, die ernst gemeint sind. Der Gedanke der Ewigkeit ist der gröbste, den sich ein Mensch über seine Handlungen machen kann.

Die situationistischen Techniken müssen noch erfunden werden. Wir wissen aber, daß eine Aufgabe sich nur dort stellt, wo die zu ihrer Verwirklichung notwendigen materiellen Bedingungen schon vorhanden oder wenigstens im Entstehen begriffen sind. Wir müssen mit einer beschränkten Experimentalstufe beginnen. Vermutlich sollten wir, trotz unvermeidlicher anfänglicher Unzulänglichkeiten, Pläne von Situationen – wie Drehbücher – vorbereiten. Es wird also notwendig sein, ein System zu fördern, dessen Genauigkeit in dem Maße steigt, wie wir durch unsere Konstruktionsexperimente weiter kommen. Wir werden Gesetze erfinden oder nachprüfen müssen, wie dasjenige, das die situationistische Erregung von der äußersten Konzentration oder Zerstreuung der Gesten abhängig macht (wobei die klassische Tragödie ein ungefähres Bild für den ersten Fall und das Umherschweifen für den zweiten lieferte. Außer den direkten, zu ihren genauen Zielen benutzten Mitteln wird die Konstruktion von Situationen in ihrer Behauptungsphase eine neue Anwendung der Reproduktionstechniken verlangen. Man kann sich z.B. vorstellen, wie eine Fernsehsendung einige Aspekte einer Situation in eine andere übertragen und dadurch Änderungen und gegenseitige Einwirkungen bewirken könnte. Auf eine einfachere Weise aber könnte die sogenannte Wochenschau beginnen, ihrem Namen durch die Bildung einer neuen Schule des Dokumentarfilms gerecht zu werden, die sich darum bemühen würde, die bedeutungsvollsten Augenblicke einer Situation für das situationistische Archiv festzuhalten, bevor die Weiterentwicklung ihrer Elemente eine andere, verschiedenartige Situation hätte entstehen lassen. Da die systematische Konstruktion von Situationen vorher nicht vorhandene Gefühle erzeugen soll, würde der Film seine größte pädagogische Rolle in der Verbreitung dieser neuen Leidenschaften haben. Die situationistische Theorie behauptet entschieden eine ununterbrochene Lebensauffassung. Der Begriff der Einheitlichkeit wird von der Perspektive eines ganzen Lebens – in der er eine reaktionäre Mystifizierung ist, die sich auf den Glauben an die unsterbliche Seele und in letzter Konsequenz auf die Arbeitsteilung gründet – auf die vom Leben isolierten Augenblicke und die Konstruktion jeden Augenblicks durch den einheitlichen Gebrauch der situationistischen Mittel verlagert. In einer klassenlosen Gesellschaft, kann man sagen, wird es keine Maler mehr geben, sondern Situationisten, die unter anderem auch malen.

Das schwerwiegendste Gefühlsdrama des Lebens – der immerwährende Konflikt zwischen Begierde und der dieser feindlich gesinnten Wirklichkeit – scheint die Empfindung des Ablaufs der Zeit zu sein. Die situationistische Haltung besteht darin, auf die Vergänglichkeit zu rechnen im Gegensatz zu den ästhetischen Verfahren, die danach strebten, die Emotionen festzuhalten. Die situationistische Herausforderung an die vergehenden Emotionen und die Zeit wäre die Wette, mit der Veränderung immer wieder zu gewinnen, indem man im Spiel und in der Vervielfachung der aufregenden Perioden immer weiter ginge. [...]

Unsere unmittelbaren Aufgaben

Wir müssen in den Arbeiterparteien oder den in ihnen vorhandenen extremistischen Tendenzen die Notwendigkeit verfechten, eine konsequente ideologische Aktion ins Auge zu fassen, um auf dem Gebiet der Leidenschaften gegen den Einfluß der Propaganda Methoden des hoch entwickelten Kapitalismus zu kämpfen bei jeder Gelegenheit konkret dem Spiegelbild der kapitalistischen Lebensweise andere, wünschenswerte Lebensweisen entgegensetzen; mit allen hyper-politischen Mitteln die bürgerliche Glücksvorstellung zerstören. Indem wir in der herrschenden Klasse der Gesellschaften das Vorhandensein von Elementen berücksichtigen, die aus Langeweile und Bedürfnis nach Neuigkeit immer wieder zu dem beitragen, was schließlich die Beseitigung dieser Gesellschaften bewirkt, müssen wir gleichzeitig die Personen, die einige grössere, uns fehlende Hilfsmittel besitzen, dazu anregen, uns die Mittel zu geben, unsere Experimente durchzuführen, indem sie uns einen ähnlichen – und ebenso rentablen – Kredit geben wie derjenige, der für die wissenschaftliche Forschung investiert wird.

Wir müssen überall eine revolutionäre Alternative zur herrschenden Kultur bieten; alle Forschungen koordinieren, die zur Zeit ohne Gesamtperspektive sind; durch Kritik und Propaganda die fortgeschrittensten Künstler und Intellektuellen aller Länder dazu bringen, zwecks gemeinsamer Aktion den Kontakt zu uns herzustellen.

Wir müssen uns für bereit erklären, die Diskussion auf der Basis dieses Programms mit all denen wieder aufzunehmen, die, nachdem sie sich an einer vorherigen Stufe unserer Aktion beteiligt haben, immer noch imstande sind, sich uns anzuschließen.

Wir müssen die Parolen des unitären Urbanismus, des experimentellen Verhaltens, der hyper- politischen Propaganda und der Konstruktion von Stimmungen behaupten. Die Leidenschaften sind oft genug interpretiert worden – es kommt jetzt darauf an, neue zu finden!



Quelle: Der Auszug stammt aus Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations– und Aktionsbedingungen der Internationalen Situatonistischen Tendenz., als Gründungstext der Situationistischen Internationale erstmalig 1957 in Paris veröffentlich der wurde als Rapport sur la construction des situations et sur les conditions de l´organistaion et de l´action de la tendance situationniste internationale.
http://textz.gnutenberg.net/textz/debord_guy_rapport_ueber_die_konstruktion_von_situationen.txt