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Carsten Nicolai
»»Ich will sozusagen im Kern vom Ton bleiben.«: Interview von Martin Pesch«

Carsten Nicolai
»Ich will sozusagen im Kern vom Ton bleiben.«
Interview von Martin Pesch


Martin Pesch: Kannst Du etwas über Deinen Hintergrund erzählen. Wie entwickelte sich Dein Interesse für Musik und daraus dann die eigene Musikproduktion?

Carsten Nicolai: Was mich nachhaltig beeinflußt hat, ist das Radiohören. Wir waren nicht sehr gut vernetzt und mußten deshalb Kurzwelle hören, und das hat mich begeistert. (Carsten Nicolai wurde in Karl-Marx-Stadt geboren, studierte u.a. in Dresden) Diese ganzen codierten Informationen, die über Kurzwelle kommen. Russische Funksprüche, die verschlüsselt wurden in Zahlenkombinationen, da wurden manchmal stundenlang auf Russisch Zahlen durchgesagt, das hat mich sehr beeindruckt. Ich habe das mitgeschnitten, auch so kuriose Überlagerung von Sprache und Morsezeichen, das war für mich so eine Mischung aus kleinen fertigen Stücken und geheimnisvollen Fundstücken. Eine Platte, die sehr wichtig war für mich, ist »My Life in the Bush of Ghosts« von Brian Eno und David Byrne. Die beiden haben damals ein Ding gemacht, von dem sie wahrscheinlich selbst nicht wußten, was sie da abliefern. Eine wichtige Platte war auch die erste von Laurie Anderson. Von da gab es dann wieder Verbindungen zu Meredith Monk, zu den Minimalisten, Steve Reich habe ich mir sehr viel angehört. Es war ja immer hier ein Problem, die Platten zu kriegen. Jeder, der eine Platte hatte, hat die dann verborgt, und dann gingen die herum in bestimmten Kreisen, irgendwann bekam man dann was zurück, meist eine andere Platte. Mein Bruder und ich, wir hatten vielleicht 30, 40 Platten, die aus dem Westen stammten, die wurden alle überspielt, das hatte eine enorme Bedeutung. Man hatte eine Riesentapesammlung, wichtig ist dabei auch, daß man auf jeden Fall ein Aufnahmegerät hatte. Mit dem Tonband, das ich hatte, habe ich auch meine ersten Experimente gemacht. Diese essentielle Bedeutung des Aufnehmens von Schallplatten hat den Weg kurz gemacht zum Aufnehmen eigener Sachen. Ich habe ganz früh angefangen, Loops zu machen, habe Cassetten zusammengebastelt. Als es dann ging, Anfang der 90er Jahre, habe ich mir den einfachsten Akai-Sampler gekauft. Ich brauchte ja nur eine Maschine, die mir die Loops baut, und keine Musikmaschine. Die MIDIfizierung interessiert mich eigentlich bis heute nicht. Es ging mir nur immer um die Idee, Loops herzustellen. Einen wichtigen Einfluß aus der bildenden Kunst gibt es noch, nämlich Carlfriedrich Claus. Der hat sich viel mit Sprache beschäftigt, hat aber auch akustische Experimente gemacht, und bei dem sah ich, um was es mir auch immer ging, spartenübergreifend zu sein. Das ist mir auch erst später bewußt geworden, daß alles, was ich gemacht habe, in Sparten rezipiert wird.

M.P.: Man kann also sagen, daß Deine eigene Musik weniger etwas mit der aktuellen, mit Techno zusammenhängenden Bewegung zu tun hat, sondern mehr mit der elektronischen Musik im avantgardistischen Sinn?

C.N.: Diese langen Traditionen, frühes Bauhaus, Dada, Duchamp, Picabia, sind schon wichtig, mich interessiert aber beides. Techno hat nochmal ein Feld geöffnet. Erst im Hinblick darauf, daß elektronische Musik populärer geworden ist, daß ihr Schwellenwert sehr viel größer wurde. Und dann natürlich auch im Hinblick auf die Verbindung eher traditioneller Ansätze mit ganz aktuellen Szenen. Die Leute von Sähkö (1) zum Beispiel kann man ja an dieser Schnittstelle beobachten. Dadurch, daß sich die Techno-Szene jetzt so aufgespalten hat, kann man feststellen, daß es sehr viele Parallelen gibt zur Musique Concrète oder zu Sachen aus den 70er Jahren. Das ist ja eigentlich abgebrochen, vielleicht passiert es im Moment noch unterbewußt, aber ich glaube, daß dieser Faden gerade wieder aufgenommen wird.

M.P.: Seit wann ist die Musik, die Du auf Platte veröffentlichst, auch Teil Deiner bildenden Künste?

C.N.: Seit gut einem Jahr. Die “Mikro Makro” ist eine Installation, die “∞” ist die documenta-Arbeit, die nächste hat etwas mit 18 Skulpturen zu tun, es sind deshalb 18 Stücke. Und “polyfoto” ist mit Zeichnungen verbunden. Da geht es um wechselnde Perspektiven auf Gegenstände, die sich verschieben, und das habe ich mittels einer Polyrhythmik umzusetzen versucht.

M.P.: Welche Geräte benutzt Du?

C.N.: Sampler, Aufnahmegeräte und Mischpult. Ansonsten habe ich drei große Oszillatoren, das sind eher technische Meßgeräte, Sinuswellenerzeuger, die ich zusammenstöpsele und aus denen ich in langen Sessions meine Sounds hole. Das sind meine Hauptgeräte, Meßtechnik aus der DDR, auch ein sehr schönes Gerät aus Rußland und ein sehr schweres Gerät aus Ungarn.

M.P.: Bedeutet Dir der Unterschied zwischen analog und digital etwas?

C.N.: Ich habe bisher fast nur analog gearbeitet, aber ich bin nicht der große Analog-Verfechter, die digitale Idee hat ihren eigenen Reiz, und man kann damit sehr viel machen. Was mich aber mehr interessiert, ist, mit puren Sinustönen zu arbeiten, Effekte interessieren mich zum Beispiel überhaupt nicht. Ich will sozusagen im Kern vom Ton bleiben. Das ist meine Auffassung.

M.P.: Aus allem, was Du sagst, kann man schließen, daß Dich der Ort, wo elektronische Musik heute ihre größte Öffentlichkeit hat, also der Club, nicht sonderlich interessiert.

C.N.: Bei Club interessiert mich hauptsächlich die Idee des Mixens, ich mache ja tendentiell unendliche Stücke, und von daher interessiert mich das Vorgehen des DJs, einen unendlichen aus vielen verschiedenen zu verweben. Dann gefällt mir auch der soziale Aspekt. Mittlerweile gibt es ja diese loungeartigen Konstrukte, bei denen die Musik ziemlich wichtig ist und wo die Gelegenheit besteht, sie neu oder intensiver zu erleben.

M.P.: Wo siehst Du den Unterschied zwischen der Situation als Künstler und Musiker gegenüber einem Publikum?

C.N.: Es ist schon toll, daß man mit einem Label relativ einfach viele Leute erreichen kann, wobei das nicht der primäre Aspekt war, das Label zu gründen. Die ökonomische Struktur, in der Musik verteilt wird, ist schon sehr angenehm. Als Künstler macht man ja meist ein Unikat, das in einer elitären Situation gehandelt wird, und die zeitgemäßere Form sehe ich eigentlich schon im Musikbereich. Das ist aber nicht der Hauptaspekt meines Musikmachens, eher etwas, das ich beobachte.

M.P.:Wie gehst Du mit Deiner Doppelrolle um: Von vielen wirst Du nur als bildender Künstler wahrgenommen, von anderen wiederum nur als Musiker oder Soundforscher.

C.N.: Es ist eigentlich oft so, daß Leute, die meine Musik kennenlernen, ahnen, daß da noch irgendwas dahinter ist, daß die Musik in einem noch anderen Zusammenhang steht. Man merkt das an so Fragen, die kommen. Es ist aber nicht so, daß ich die Tatsache, daß ich bildender Künstler bin, oder daß die Musik Bestandteil von Installationen oder Ausstellungen ist, groß propagiere. Die Leute, die sich dafür zu interessieren beginnen, bekommen das eh heraus und können dann selbst entscheiden, ob das für ihre Sichtweise auf die Musik wichtig ist. Auf der anderen Seite ist es fast schon kurios, wie wenig sich Leute, die professionell in der Kunstszene sind, mit Musik im allgemeinen auskennen. Da fällt es mir dann immer schwer klarzumachen, daß mich noch andere Sachen interessieren. Architektur, Theater, alles hat einen Einfluß auf mich, und ich möchte, daß diese verschiedenen Aspekte wahrgenommen werden. Einige Leute sind aber dadurch, daß sie meine künstlerische Arbeit mögen, mit einer speziellen Musik in Berührung bekommen, haben angefangen, sich Platten zu kaufen. Und bei jüngeren Kollegen ist es fast schon normal, daß die einen Sampler zu Hause stehen oder Cubase (2) auf der Festplatte haben.


In der von Nicolai gegründeten Plattenfirma Noton (im Untertitel: Archiv für Ton und Nichtton), die sich der experimentellen elektronischen Musik und der Erforschung klanglicher Räume widmet, veröffentlichen neben Nicolai als Noto auch das finnische Panosonic-Mitglied Mika Vainio oder das niederländische Duo de Waar und Meelkop alias Goem. Interview abgedruckt in: Martin Pesch, Mehr als Crossover – Techno, House und neue elektronische Musik in der aktuellen Kunst. Statements, Features und Interviews von, über und mit Stefan Altenburger, Stefan Hoderlein, Carsten Nicolai, Daniel Pflumm und Jo Zimmermann, in: Make it funky – Crossover zwischen Musik, Pop, Avantgarde und Kunst, Ulrike Groos/Markus Müller (Hrsg.), Jahresring: 45, Kulturkreis des BDI, Oktagon: Köln 1998, S. 325-329
Nachdruck in: Rudolf Frieling/Dieter Daniels (Hg.), Medien Kunst Interaktion–Die 1980er und 1990er in Deutschland, Wien/New York 2000.

1 Finnisches Plattenlabel.
2 Software zur Aufzeichnung und Editierung von MIDI-Daten.